Auf und Ab

Am zweiten Tag und nach vielen Besuchen im Handyladen funktioniert das Ding, aber schon am anderen Morgen versagt die SIMkarte leider wieder ihren Dienst. Es ist zum aus-der-Haut-fahren. Dieses ständige Auf und Ab zerrt an unseren Nerven. Einerseits haben wir hier einen fast vollkommen unbrauchbaren Reiseführer auf dem E-book – kauft euch NIE einen Reiseführer für E-book! Zum anderen ist der Internetzugang auch per Handy zwecks Routenplanung für Andrea sporadisch und wackelig, mit meinem neuen Handy gar nicht möglich. Ohne Internet ist man als Individualreisender komplett aufgeschmissen. Gestern kam bei Andrea nach all dem Herumtauschen der SIMkarten die Frage, wo denn eigentlich ihre deutsche SIM ist? Die Folge ist ein fast einstündiges komplettes Auspacken aller unserer Besitztümer, jede Tasche, jedes Fach haben wir umgedreht. Ganz zum Schluss, nach der dritten Runde haben wir sie tatsächlich im Geldbeutel gefunden. Aber die Nerven lagen blank. In Situationen wie dieser sind wir nahe dran, die ganze Sache hinzuschmeißen und abzubrechen. Jetzt sitzen wir im Bus von Villarica nach Puerto Varas, das liegt etwas nördlich von Puerto Montt. Die Dimensionen dieses Landes sind unglaublich. Obwohl die Straßen in diesem Landesteil sehr gut ausgebaut sind und der moderne Reisebus fast immer das erlaubte Höchsttempo von 100 Stundenkilometern fährt, scheint es, als ob wir nicht vom Fleck kommen. Von Santiago bis hier haben wir neun Stunden gebraucht, heute nochmal fünf. Bis Punta Arenas wären es dann weitere 18 Stunden und von da bis Ushuaia nochmal 12 Stunden, wenn alles gut geht. Die Busse da unten fahren aber nicht jeden Tag, teilweise nur zweimal wöchentlich. Uns wird ein wenig Angst vor unserem Projekt. Seitdem mir mein Handy geklaut wurde, ist irgendwie die Leichtigkeit des Reisens verloren gegangen. Der Ärger mit der neuen SIM-Karte hat uns viele Stunden gekostet, von den Nerven ganz zu schweigen. Nichtsdestoweniger: Der Ausblick aus dem Busfenster ist atemberaubend. Stundenlang ziehen Wälder, Felder, Weiden an uns vorbei. Die Landschaft ist recht flach, aber weit im Osten schweben die schneebedeckten Gipfel der Vulkane überm Horizont. Puyehue, Casablanca, Puntiagudo und Osorno sind überwiegend perfekt kegelförmig und zwischen zwei- und knapp dreitausend Meter hoch.

Puerto Varas

Endlich geht’s aufwärts, sagt Andrea, als wir den steilen Berg zur Casa Rita hinauf ächzen. Es ist eine der schönsten Unterkünfte, die wir bisher auf unserer Reise hatten. Der fabelhafte Blick auf den See und die perfekten Vulkane dahinter entschädigt für den anstrengenden Aufstieg. Die meisten Gäste kommen wohl ohnehin mit dem Auto. Aber mit aufwärts meinte mein Schatz, dass wir heute mal wieder einen guten Tag ohne Zwischenfälle oder Probleme, geschweige denn Diebstähle hatten. Im Gegenteil, wir haben erfolgreich die Hindernisse der Onlinebuchung überwunden und einen Flug nach Punta Arenas, Patagonien gebucht. Und unser Gepäck haben wir auch schon eingebucht, das kostet hier natürlich extra, fast so viel wie die Tickets. Angesichts der gigantischen Dimensionen dieses Landes mussten wir einsehen, dass wir es per Bus nicht rechtzeitig bis Ushuaia, Feuerland schaffen werden. Am 1. März geht doch von dort unser Flug nach Buenos Aires, wo wir unsere Tochter treffen! Vorher wollen wir noch ein paar Berge, Gletscher, Seen usw. sehen. Es macht ja wenig Sinn, dauernd bloß im Bus beziehungsweise auf der Fähre zu hocken, zumal die Carretera Austral ja gar nicht ganz durchgeht, sondern immer wieder am Wasser der Fjorde und Lagunen endet. Also haben wir schon mal um 1300 Kilometer abgekürzt. Ferner haben wir schon ein Zimmer für die nächste Station, Puerto Montt gebucht. Es stellt sich nämlich heraus, dass man hier ohne Vorbuchung ziemlich schnell im Regen steht oder auf die teuersten und weit abgelegenen Unterkünfte ausweichen muss. Darüber hinaus haben wir eine kleine Kanutour gemacht und uns Räder ausgeliehen. Puerto Varas ist eine nette kleine Ferienstadt am Rand der Nationalparks um die Seen und Vulkane. Hier sind zwar jede Menge Touristen unterwegs, aber ausschließlich Chilenen. Es ist gelungen, die ausgetretensten Touripfade zu verlassen. Schließlich – und das hat uns am meisten gefreut, hatten wir ein Videotelefonat mit unseren lieben Freunden Elke und Frank daheim, die unsere Oma zum Kaffee da hatten. Jetzt geht’s aufwärts!

Ausflug zum Osorno und Lago de Todos Santos von Puerto Varas

Der älteste Nationalpark Chiles liegt zu Füßen des Vulkans Osorno. Der Lago Llanquihue, Chiles zweitgrößter See lässt das ganze noch spektakulärer wirken. Mit 860 Quadratkilometern ist er deutlich mehr als doppelt so groß wie unser Bodensee. Das Valle Central Chiles, das Zentraltal erstreckt sich von Santiago bis hier etwa 1030 Kilometer durch das langgestreckte Land. Bei Puerto Montt etwa 30 Kilometer weiter südlich endet es, für viele Chilenen übrigens endet hier auch Chile. Als man Mitte des 19. Jahrhunderts beschloss, die südlichen Weiten Chiles zu besiedeln, fand sich keiner der spanischstämmigen Chilenen des Nordens bereit, diese Gegend zu bewohnen. Also lud man deutsche Auswanderer ein, da Land zu bewohnen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kamen rund 40 000 Deutsche, die nicht nur Puerto Montt gründeten, sondern auch binnen dreier Monate einen Weg bis hier zum Llanquihue See aus dem Urwald herausschlugen, Puerto Varas gründeten und die fruchtbaren Täler rund um die Vulkane Osorno und Calbuco bewirtschafteten. Der Calbuco übrigens ist erst vor vier Jahren ausgebrochen, seither wurden hier alle Häuser neu gebaut, weil sie unter der Last der Asche zusammenbrachen. Nur ein paar der alten Holzhäuser der deutschen Siedler haben der Katastrophe widerstanden, wie unser Führer Iwan nicht ohne Bewunderung erzählt. Überhaupt liegen angeblich in Chile 2900 Vulkane, also die Hälfte aller Vulkane weltweit!

Wir genießen traumhafte Ausblicke auf den Osorno, dahinter lugt immer wieder der Puntigudo hervor. Die Berge rundum sind bereits Teil der Anden. Der Fluss Petrohue verlässt den knallblauen Lago de Todos Santos („Allerheiligensee“), um mit großem Getöse in einem spektakulären Wasserfall eine Lavabarriere zu durchbrechen, die der Osorno hier irgendwann einmal hingespuckt hat. 1869 ist er zuletzt ausgebrochen, aber immer noch aktiv. Unsere Tour führt uns bis zum Ende der Straße auf etwa 1240 Meter über dem Meer. Wir wandern noch rund 200 Höhenmeter weiter in der glühenden Sonne über den Lavasand und -kies. Der Ausblick reicht weit nach Westen über den ganzen Lago de Llanquihue, südlich bis zum Pazifik bei Puerto Montt, nach Osten bis zum riesigen Vulkan Tronador (3478 Meter). Nachdem ich zwar noch hölzerne Bauernhäuser mit Schildern „Kuchen“ sehe, aber keine Felder, frage ich nach. Ivan erklärt, dass die Farmer an den Hängen des Vulkans früher Milchwirtschaft betrieben, weiter unten im Tal wurden Kartoffeln, Tomaten anderes Gemüse, sowie Blumen angebaut. Doch heute geben die meisten Bauern ihre Farmen auf, weil sie unwirtschaftlich geworden sind. Viele stehen zum Verkauf, einige wurden in Ferienwohnungen umgewandelt.

Puerto Montt, Hospedaje Teresita

Beim Frühstück sind wir nicht mehr allein in der Casa Rita, wir essen zusammen mit einem jungen Paar aus Santiago. Der Mann ist ja ganz nett, aber seine Tussi eine arrogante dumme Gans. Von Rita dagegen verabschieden wir uns herzlich. Mit dem Bus gelangen wir in einer halben Stunde nach Puerto Montt, wo wir erstmal an einer Ausfallstraße in der gleißenden Sonne unsere Uber-App auf meinem Handy reaktivieren müssen. Durch den Wechsel des Gerätes ist da einiges durcheinander gekommen. Jedenfalls brausen wir kurz drauf mit unserem Fahrer durch die hügelige Stadt zur Hospedaje Teresita, einem Ersatzquartier. Unsere erste Wahl war überbucht und wir haben uns kurzfristig etwas anderes suchen müssen. Mal sehen, ob uns booking.com tatsächliche die Mehrkosten erstatten wird? Eigentlich ist es ja gar nicht unser Ding, aber es scheint praktisch unmöglich, zu reisen ohne vor zu buchen. JEDER tut es, wer es nicht tut, hat schlicht und einfach das Nachsehen und die teureren Zimmer. Ein sehr betagtes Ehepaar öffnet uns die wackelige Tür der windschiefen Herberge. Wir stolpern über eine niedrige Stufe, die ganz schief ins Haus hineinführt. Im Gang stapeln sich Heiligenbilder und -figuren. Noch schiefer ist der erste Stock, man läuft ständig bergauf oder bergab. Dafür ist auch hier offensichtlich für den himmlischen Segen gesorgt. Wir legen unser Gepäck ab und erkunden die Stadt. Hoffentlich gibt es heute kein neues Erdbeben.

Obwohl Puerto Montt durchaus eine der ältesten Gründungen der Region war, haben sich kaum historische Gebäude erhalten. Ein Erdbeben zerstörte fast alles im Jahre 1960. Nur ein paar kleine alte Bretterbuden stehen noch im Stadtkern, heute werden dort vor allem Kunsthandwerk und lokal typische Speisen verkauft. Die Gegend um den Busbahnhof soll man meiden, hier ist viel Gesindel unterwegs. Wir machen uns auf zum Fischmarkt Angelmo. Er liegt eingezwängt in zahllose Andenkenläden, die alle das gleiche Angebot haben: Holzschnitzereien, Wollartikel, Lederwaren und Modeschmuck. Im Fischmarkt gibt es Seehecht, Conger, Lachs, Austern und andere Muscheln sowie ein paar Krebse. Ganz nett, aber nicht wirklich beeindruckend. Am besten sind die kleinen Lokale rundum und oben drüber, wo man den frischesten Fisch zu sehr günstigen Preisen verspeisen kann. Inzwischen habe ich alle der hier üblichen Fischarten durchprobiert und habe meinen Favoriten gefunden: Der Lachs schmeckt mir am leckersten.

Dazu ist allerdings anzumerken, dass die chilenische Küche wirklich nicht die beste ist. Die Fische hier sehen wirklich erstklassig aus, aber das Ergebnis auf dem Tisch ist untere Mittelklasse. Sind wir inzwischen derart verwöhnt? Nein, das ist schlichtweg mies im Vergleich zu dem Fisch, den ich in Valparaiso beim Peruaner hatte. Auf Peru freue ich mich, denn die Peruaner können wirklich gut kochen. Die Chilenen würzen so gut wie gar nicht, kennen nur (sehr wenig) Salz und Zitrone. Sonstige Sehenswürdigkeiten (außer Essen und Trinken) bietet Puerto Montt keine.

Handy weg

Nun sind wir nach drei Tagen Valparaiso auf dem Weg zurück nach Santiago, denn von dort gibt es viel mehr Möglichkeiten, weiter in den Süden zu fahren. Schließlich sind wir ganz klassisch per Ubertaxi zum Busbahnhof gefahren und haben uns dort ein Ticket am Schalter gekauft. Wir wollen es unbedingt vermeiden, mitten in der Nacht oder allzu früh morgens irgendwo anzukommen, wo wir dann mit dem kompletten Gepäck erst stundenlang warten müssen, bis wir eine Unterkunft finden oder es sonstwie weitergeht. Der bequeme Bus des Unternehmens Condor tröstet nicht ganz darüber hinweg, dass wir nicht unsere gewünschte Verbindung nach Pucon bekommen haben. Die Sitze sind weich gepolstert, die Beinfreiheit geradezu luxuriös. Ein großes Display zeigt an, wie schnell der Bus unterwegs ist und Schilder weisen die Fahrgäste darauf hin, dass sie sich beschweren sollen, wenn der Fahrer zu schnell fährt. Tatsächlich ertönt eine Hupe, wenn er mal versehentlich über hundert fährt. Gebirge und Hügellandschaften ziehen an den Fenstern vorbei. Der Mischwald besteht aus Laub- und Nadelbäumen sowie Palmen, es gibt kaum Unterholz und alles scheint staubtrocken zu sein. Die Straße ist eine perfekt ausgebaute vierspurige kreuzungsfreie Autobahn. Eine der besten Straßen seit Malaysia und Singapur. In Neuseeland gab es nur um Auckland herum ein paar größere Straßen, ansonsten waren alle State Highways einfache Landstraßen, Brücken häufig einspurig. 

Was soll ich sagen, wir verbringen einen weiteren Tag in Santiago, denn unser Bus nach Süden fährt erst um 21 Uhr. Bis dahin besichtigen wir noch ein Kunstmuseum und einen Park. Wiederum sehen wir einige Menschen, die hier im Zelt oder auf Matratzen ihr Lager bezogen haben. Wer nämlich in diesem Land den Job verliert ist schnell auch die Wohnung los und dann bleibt oft nur das Zelt, das eigentlich für den nächsten Urlaub gedacht war. Bei einem Mindestlohn von rund 420 Euro – die einfachen Leute verdienen kaum mehr als das – kann man auch schlecht irgendwelche Reserven bilden. Vielen bleibt nichts anderes übrig, sie tragen entbehrliche Wertgegenstände oder einfachen Hausrat zum Flohmarkt, um es zu Geld zu machen. Wir sehen junge Leute, die in der Rotphase vor der Autoschlange an einer Ampel mitten auf der Straße artistische Kunststücke vorführen. Anschließend sammeln sie Kleingeld ein. Andere kommen auf krumme Ideen. So hat mir heute irgendjemand in der Metro das Mobiltelefon aus der Tasche gezogen. Sehr ärgerlich für mich, das grenzt ja heutzutage fast an Amputation. Ich wünsche dem Dieb jedenfalls viel Spaß mit dem alten Gerät. Es war nicht mehr viel wert, der Akku hielt mit Ach und Krach noch einen halben Tag und ständig stürzten Apps ab. Ich habe das Handy jedenfalls sofort über Google gesperrt und meine Daten gelöscht.  

Trotzdem hat mir die Sache mindestens eine Nacht und die nächsten Tage total versaut. Der Nachtbus nach Villarica war so schon eine Foltertour. Luxuriöse Sitze, aber mit eingesessenen Mulden für Menschen, die mindestens einen, wenn nicht zwei Köpfe kürzer sind als ich. Mit eingeklemmten Brust- und Lendenwirbeln träume ich vom Taschendieb. Es kommt aber noch schlimmer: Kurz vor halb sechs Uhr kommen wir an, es herrscht noch komplette Dunkelheit, eine gottverlassene Straße und ein paar müde Straßenhunde begrüßen uns bei etwa 6 Grad. Zumindest lange Hosen haben wir an.

Doch Villarica entpuppt sich bei Licht doch als ein schöner Fleck. Fast von überall in der Stadt kann man den riesigen Vulkan sehen, der auch noch ganz idyllisch hinter einem riesigen See liegt. Es ist zwar eine Feriengegend, aber hier sind ausschließlich chilenische Touristen unterwegs. Erstaunlicherweise fallen wir trotzdem kaum auf, im Gegenteil, manchmal werden wir angeredet, als ob man uns für Chilenen halten würde. Das chilenische Volk ist ein derartiges Gemisch aus vielen Völkern, da gibt es spanische, englische, kroatische, deutsche und viele andere Wurzeln. In die chilenische Sprache haben aus dem Deutschen einzig die Wörter „Yah“(=Ja) und „Kuchen“ Eingang gefunden, dafür ist Kuchen aber bis heute SEHR wichtig in Chile. Überall gibt es Kuchen, bestimmt essen die Leute mehr Kuchen als Brot. Die nette kleine Stadt erwandern wir zu Fuß, die angebotenen Ausflüge zu diversen Wasserfällen oder Thermalquellen sparen wir uns aber. Wir verbringen eineinhalb Tage damit, ein neues Handy für mich zu kaufen sowie eine neue SIM-Karte zu aktivieren. Alles nicht so einfach hier!

Valparaiso und nochmal Santiago

Die Hafenstadt Valparaiso am Meer gefällt uns sehr, auch wenn sie ihres Namens spottet. Erstens ist da kein Tal, zweitens gar nichts paradiesisch. Die Stadt ist extrem lebendig, jung und ein wenig kriminell. Kneipen, Kunst und Leben überall. Angeblich auch gefährlich. Als uns der Uber-Taxifahrer am Hostel in der Avenda Templeman absetzt, warnt er uns: Dies sei derzeit eine der gefährlichsten Straßen der Stadt, erst letzte Woche ist ein kanadischer Tourist ermordet worden. Wir sind ein wenig verunsichert und legen alle Wertgegenstände ab, nehmen nur ein Handy und ein wenig Bargeld mit. Auf den Straßen rundum ist alles voller Streetart, nachmittags sind viele Menschen unterwegs. Wir fühlen uns eigentlich ganz wohl und zweifeln ein wenig, was wir glauben sollen. Letztlich überwiegt die Vorsicht und wir sehen zu, dass wir vor der Dämmerung zurück in die Unterkunft kommen. Von unserer winzigen Dachterrasse aus genießen wir noch die Aussicht auf die Bucht, den Hafen, die Stadt. Auf dem Dach des Nachbarhauses steht eine rostige Isetta. Wie das bayrische Kleinstauto wohl hierher gekommen sein mag?

Unser Hostel La Acuarela ist ein wenig Kommune, ein wenig Villa Kunterbunt. Das ganze Haus wirkt wie aus Abbruchmaterial zusammengezimmert: Küche und Gemeinschaftsbereich sind ein entkernter Fachwerkbau, die gußeiserne Wendeltreppe ist so eng, dass ich kaum mit meinem Rucksack durchpasse. Einige Fenster sind mit farbigen Scheiben verglast wie in einer Kirche; jeder Türstock anders bunt gestrichen. Zwei der drei Duschen bleiben trotz besten Zuredens kalt, die Seife in den Spendern besteht zu 99 Prozent aus Wasser und die Handtücher sind kratzig und hart vom Kalk. Genau so wie ich es mag! Jeder Gegenstand hier atmet seine eigene Geschichte, alles ist alt und ein wenig schief, aber liebevoll angebracht und dekoriert. Jeden Tag kommen abends andere junge Leute, vor allem Frauen, kochen und essen zusammen. Manche übernachten auch hier, manche duschen und essen bloß, wohl weil sie keine andere Möglichkeit haben. Zahlende Gäste gibt es nur wenige. Der einzige Fixpunkt ist ein junger Mann aus Argentinien. Er ist der Nachtwächter und schläft im ersten Schlafsaal im Erdgeschoß. Wir wohnen mitten im Unesco-Weltkulturerbe. Überall rundum ist Kunst – aber nicht wie die Kunst aus einem Museum, sondern lebendige, brandaktuelle Kunst mit Botschaften von hier und heute.

Mit Juan José unternehmen wir eine Sightseeingtour zu Fuß durch die Stadt. Er zeigt uns die besten, sehenswertesten und neuesten murales (Streetart – Wandbilder) und führt uns durch das verwirrende Gewirr der Gassen und die angesagtesten Viertel – unser Hostel liegt zufällig mittendrin. Fast alle Wandbilder haben eine mehr oder weniger versteckte politische Botschaft, die meisten protestieren gegen die staatliche Repression, viele prangern die Unterdrückung der indigenen Bevölkerung oder den Raubbau an der Natur an. Auf einigen der gemalten Gesichter ist jeweils eins der Augen übermalt, teils in brutalem rot oder schwarz. Dies ist eine Art stiller Protest der Künstlergemeinde. Einige Demonstranten haben nämlich bei den Protesten im Tränengasnebel und Gummigeschoßhagel ein Auge verloren. Bei den Unruhen ging es um mehr als eine Fahrpreiserhöhung. Juan erzählt uns über die soziale Ungleichheit in Chile. Bessere Bildungschancen, angemessene Gesundheitsvorsorge und ausreichende Altersvorsorge sind in extremer Weise der reichen Oberschicht vorbehalten. Einfache Rentner haben kaum ein Auskommen, auf einen simplen Bluttest muss man Monate warten, wenn man keine private Krankenversicherung hat.

Meinen Geburtstag verbringen wir mit Herumwandern in der atemberaubenden Atmosphäre dieser Stadt. Zum einen wegen der Kunst, zum anderen wegen des Reizgases. Am Geruch erkennt man sofort die Viertel, wo die Demonstrationen stattfinden. Ich frage mich, wie es sein kann, dass es noch am nächsten Nachmittag derart ekelhaft stinkt; wahrscheinlich sind die Mauern schon imprägniert. Jede Nacht wird von der Polizei großzügig ein neuer Aufguss nachgelegt. Uns laufen die Nasen, der Hals kratzt und die Augen tränen. Oben auf dem Hügel  bei der Casa Sebastiana merkt man nichts davon. Hier lebte Pablo Neruda, der beliebte chilenische Poet, Nobelpreisträger und Freund Salvador Allendes. Seine Verehrer haben das Haus in ein sehenswertes Museum voller netter Details verwandelt.

Wirklich ärgern müssen wir uns aber, weil das Kaufen eines Bustickets für die nächste Etappe einfach nicht gelingen will. Irgendwie gibt es ein Problem mit der Seite des Busunternehmens, immer wieder hängt die ganze Sache, dann geht es doch weiter: Endlose Formulare müssen ausgefüllt werden. Warum will das Reiseunternehmen eigentlich wissen, ob wir verheiratet sind? Als ich dann zum Bezahlen komme, stockt der Prozess unerbittlich. Drei- oder viermal mache ich die ganze Tortur mit, dann gebe ich es auf. Wie damals in Indonesien habe ich nun einen ganzen Bus mit meinen digitalen Geisterklonen besetzt. Aber keins der Tickets kann ich bezahlen, geschweige denn wirklich bekommen.

Paco muerte

02.02.2020 Santiago de Chile

Heute sind wir beinahe ein wenig zwischen die Fronten geraten. Ein ausgedehnter Spaziergang führte uns nach Bellavista: ein Künstlerviertel, welches auch für seine Cafés, Bars und Theater berühmt ist. Wir sehen nicht nur hervorragende Streetart, sondern auch das Haus, in dem einst Pablo Neruda lebte. Auf dem Weg begegnen uns im Parque Forestal viele Obdachlose und Bettler. Die Verlierer dieser Gesellschaft leben in Pappverschlägen, Zelten und Sperrmüll unter freiem Himmel. Kurz drauf wundern wir uns über viele Pflastersteine und Betonbrocken, die lose auf der Straße liegen. Hat hier ein Lastwagen einen Teil seiner Ladung verloren? Komischerweise hat das Pflaster auf dem Gehsteig viele Lücken.

Ein paar Straßen weiter lesen wir die Parolen und Graffitis an einem verbarrikadierten Gebäude – gerade sind Arbeiter dabei, eine Mauer vor die Glasfront im Erdgeschoss zu betonieren, große Rollen Stacheldraht schützen einen Balkon. Ich spreche einen jungen Mann an und erfahre, dass es sich um Gebäude einer privaten Universität handelt, die im Verlauf der Unruhen stark beschädigt wurden. Hier sei das Zentrum der Unruhen, so erklärt uns Carlos, hier versammeln sich allabendlich die Protestierenden. Wir sprechen fast eine Stunde lang mit ihm. Der Exilvenezolaner wohnt um die Ecke, das Tränengas kann man noch im ganzen Viertel riechen. Bei der Straßenschlacht gab es einen Toten – der Mann ist von einem gepanzerten Polizeiauto überrollt worden.

Wir stehen an einer sechsspurigen Straße, die wir überqueren wollen. Die Ampel ist ausgefallen. Zum Glück sind hier ein paar Jugendliche, die den Verkehr regeln: Sie tragen Warnwesten und pfeifen mit ihren Trillerpfeifen. Sie haben sich einen gefährlichen Job gesucht – nicht alle Autofahrer bremsen. Als wir später an die selbe Stelle zurückkommen, haben sie mitten auf der Kreuzung ein Lagerfeuer entzündet. Alkoholisiert oder unter Drogeneinfluss halten sie jetzt die Autos an, indem sie eine Reihe von Feuerlöschern auf die Straße stellen. Mit Schals oder T-Shirts ums Gesicht gewickelt fordern sie Geld von den Autofahrern – einige drehen schnell um, andere werden gestoppt, zahlungsunwillige werden mit dem Löschpulver eingestäubt. Wir sehen zu, dass wir wegkommen. Verständlicherweise bin ich nicht zum Fotografieren gekommen. Keine Minute später: Sirenengeheul, vergitterte Polizeiautos brausen heran. Paco muerte bedeutet so viel wie „Tod den Bullen“.

Santiago de Chile

30.01.2020, über dem Pazifik südlich der Osterinsel

So einen Flug habe ich noch nicht erlebt. Abgeflogen sind wir um 6.00 Uhr morgens in Auckland, auf unserem Zwischenstopp in Sydney landeten wir etwa zwei Stunden später, aber in Sydney war es wiederum erst 6.00 Uhr und es wurde gerade Tag. Um 10.00 Sydneyzeit sind wir gestartet Richtung Osten, nach Santiago. Dabei sind wir quasi mit der Dämmerung mitgeflogen, draußen war stundenlang Zwielicht, dann Nacht. Jetzt ist es stockfinster, für mein Gefühl Abend, Ortszeit schätzungsweise Mitternacht. Aber jetzt kommts: Nachdem wir auf dem Flug einen Zeitunterschied von zehn Stunden und gleichzeitig die Datumsgrenze überschreiten, werden wir in Santiago etwa drei Stunden nach unserem Abflug in Auckland ankommen. Und das, obwohl wir den gesamten Pazifik überquert plus die Distanz Neuseeland – Australien überwunden haben. Der Service an Bord ist auch nachtschwarz. Nachdem es in den bisher neun Stunden Flug nur eine Semmel und ein Muffin gegeben hat, von Kaffee ganz zu schweigen, haben ein paar Passagiere die Küche gestürmt. Wir konnten uns eben noch die Reste einer Weinflasche sichern, bevor die Stewardessen den Raum wieder zurück erobert haben. Zu essen oder trinken gibt es nach wie vor nur im Selbstbedienungsmodus. Soll uns das auf Chile einstimmen?

Schließlich gab es doch noch etwas, kurz nach Sonnenaufgang erhielten wir wahlweise Schlabbergnocchi (die ich selbst beim Lieblingsitaliener hasse) oder Lamm mit Süßkartoffeln (mit allen verfügbaren Gewürzen bestreut durchaus essbar). Halb in Trance erleben wir die ruppige Landung und die lässigen Einreiseformalitäten. Natürlich nehmen wir trotz bleischwerer Müdigkeit kein Taxi, sondern den Klapperbus, wie die Einheimischen. Es stellt sich heraus, dass wir umsteigen müssen: Abenteuer Metro für zwei schlaflose Zombies! Aber alles halb so schlimm, es ist hier nicht viel anders als in allen anderen Städten, Weg checken, Chipkarte erwerben/aufladen, ab durchs Drehkreuz und rein ins Getümmel. Nette Leute weisen uns den Weg und manche sprechen derart langsam und deutlich, dass sogar ich es verstehen kann, obwohl meine Spanischkenntnisse extrem rudimentär sind. Genauer gesagt sind diese nicht vorhanden, nur habe ich damals im Urschleim noch zusammen mit den anderen Dinosauriern meiner Generation Latein gelernt. Es geht nichts über eine humanistische Grundbildung!

Über Chile: Wen es nicht interessiert, möge die die folgenden Absätze überspringen, ich habe sie nur für alle anderen aus Wikipedia und unserem Reiseführer zusammengeschnippelt.

Chile, „das langgestreckte Land“ hat eine Nord-Süd-Ausdehnung von rund 4275 Kilometern. In west-östlicher Richtung ist das Land nur durchschnittlich etwa 180 Kilometer breit. Die Längenausdehnung Chiles entspricht auf Europa und Afrika übertragen in etwa der Entfernung zwischen Dänemarks und der Sahara. Das Wort chilli bedeutet in der Sprache der Aymara „Land, wo die Welt zu Ende ist“.

Der moderne souveräne Staat Chile gehört zu den wirtschaftlich und sozial stabilsten und wohlhabendsten Ländern Südamerikas mit einer einkommensstarken Wirtschaft und einem hohen Lebensstandard. Es führt die lateinamerikanischen Nationen in Bezug auf menschliche Entwicklung, Wettbewerbsfähigkeit, Pro-Kopf-Einkommen, Globalisierung, Friedenszustand, wirtschaftliche Freiheit und geringes Korruptionsempfinden an. Nach Einschätzung der Weltbank ist Chile ein Schwellenland mit einem Nettonationaleinkommen im oberen Mittelfeld. Das Land ist relativ sicher, es weist nach Kanada die niedrigste Mordrate in Amerika auf.

Chile ist durch die globale Erwärmung ernsthaft gefährdet und hat seit Anfang der 90er Jahre mindestens 37 % seiner Wasserressourcen verloren. Chiles Geografie ist stark durch Gebirge und Vulkane geprägt: Im Osten die über 6000 Meter hohen Anden, im Westen die Küstenkordilliere, dazwischen das fruchtbare Valle Central. Der höchste Berg Chiles, der Ojos del Salado (6893 m), ist zugleich der höchste Vulkan der Welt. Im Norden des Landes („großer Norden“, Norte Grande) liegt die Atacamawüste, eine der trockensten Wüsten der Erde. Die Mitte des Landes um die Hauptstadt Santiago herum ist sehr fruchtbar und daher ein Zentrum der Landwirtschaft sowie auch der Industrie. Am dichtesten besiedelt ist der Großraum Región Metropolitana de Santiago, wo etwa die Hälfte der chilenischen Einwohner lebt. Die Stadt selbst hat etwa 5,5 Millionen Einwohner; sie beherbergt also in etwa ein Drittel aller Einwohner Chiles. Das sehr dünn besiedelte Südchile (genannt „großer Süden, Sur Grande“) ist eine äußerst niederschlagsreiche Region. Die Küste ist durch eine Vielzahl vorgelagerter Inseln stark zerklüftet. Südlich des Festlands befindet sich die Insel Feuerland, die sich Chile mit dem Nachbarland Argentinien teilt. Auf der Feuerland vorgelagerten Insel Isla Hornos befindet sich Kap Hoorn, der südlichste Punkt Chiles und Südamerikas.

Während der Kolonialzeit wurde Chile durch spanische Einwanderer besiedelt. Im 19. Jahrhundert wanderten besonders viele englische und irische sowie deutsche Siedler ein. Nennenswerte Zahlen von Einwanderern kamen außerdem aus Frankreich, Italien, Kroatien und in jüngerer Zeit aus Palästina bzw. dem Nahen Osten. Die ersten Deutschen trafen 1843 ein und siedelten sich später vor allem im Gebiet um den Llanquihue-See und in Valdivia, Osorno sowie Puerto Montt an. Noch heute wird die deutsche Sprache von bis zu 35.000 Einwohnern verwendet, deren Zahl allerdings stetig abnimmt. Menschenrechtsorganisationen bemängeln bis heute den schlechten Umgang mit den wenigen verbliebenen Ureinwohnern, vor allem den Mapuche, insbesondere in Bezug auf Landstreitigkeiten.

Allende und Pinochet

Im Jahre 1970 gewann Salvador Allende die Präsidentschaftswahlen für das linke Wahlbündnis Unidad Popular. Er verstaatlichte in der Folge die wichtigsten Wirtschaftszweige (Bankwesen, Landwirtschaft, Kupferminen, Industrie, Kommunikation) und geriet dadurch in wachsende Konflikte mit der Opposition – obwohl die Verstaatlichungen von der Verfassung gedeckt waren. Zudem stieß der Wahlsieg Allendes in den USA auf heftigen Widerstand. Obwohl Allende weder Marxist noch Anhänger eines Einparteienstaates war, verhängten die USA Sanktionen; der CIA unterstützte Attentate und Putschversuche. 1973 kam es schließlich zu einem erfolgreichen blutigen Militärputsch gegen die Regierung. Präsident Allende beging Selbstmord. Hunderte seiner Anhänger kamen in diesen Tagen ums Leben, Tausende wurden inhaftiert. Sämtliche staatlichen Institutionen in ganz Chile wurden binnen Stunden vom Militär besetzt. Die Macht übernahm als Präsident einer Junta General Augusto Pinochet. Überall im Lande errichtete das Militär in der Folgezeit Geheimgefängnisse, wo Oppositionelle und deren Sympathisanten nicht selten zu Tode gefoltert wurden. Tausende Chilenen gingen wegen der fortgesetzten Menschenrechtsverletzungen ins Exil.

Kurz nach der Machtübernahme Pinochets begannen die USA und die westeuropäischen Staaten, Chile wieder intensiv mit Wirtschaftshilfe zu unterstützen. Die Militärregierung machte die Verstaatlichungen Allendes mit Ausnahme der Kupferminen rückgängig, führte radikale Wirtschaftsreformen durch und schaffte die Gewerkschaftsrechte ab.

In Deutschland erhielt die Regierung Pinochets lange Zeit Unterstützung aus den Reihen der Union, vor allem der CSU. So lobte Franz Josef Strauß 1977 bei seinem Besuch den Umsturz als „gewaltigen Schlag gegen den internationalen Kommunismus“. Es sei „Unsinn, davon zu reden, daß in Chile gemordet und gefoltert würde“. Später änderte sich die Sichtweise, in den achtziger Jahren wurde auch in der CDU die Kritik an den Menschenrechtsverletzungen des Regimes deutlicher. In diese Zeit fällt auch der Chilebesuch von Norbert Blüm, bei dem dieser Pinochet im direkten Gespräch damit konfrontierte.

Insbesondere in der Colonia Dignidad, einer streng bewachten Siedlung von Auslandsdeutschen unter Führung von Paul Schäfer, wurde gefoltert. Die Sekte war etwa zehn Jahre vor der Machtübernahme Pinochets gegründet worden und diente während der Militärherrschaft als Folterzentrum für die chilenischen Geheimdienste. Darüber entwickelte sich die Colonia zu einem florierenden Konzern, der unter anderem Titan nach Deutschland exportierte. Trotz Hinweisen, gerichtlichen Anklagen und Fluchtversuchen deutscher Bürger übte die deutsche Botschaft in Chile „äußerste Zurückhaltung“ und blieb untätig, mehr noch, sie ließ Handwerker der Siedlung die Botschafterresidenz renovieren.

1988 wurde eine Volksabstimmung abgehalten, bei der sich eine Mehrheit (55 %) gegen eine weitere Amtszeit Pinochets aussprach. 1989 fanden die ersten freien Wahlen nach 15-jähriger Diktatur statt, seither hatten mehrere sozialistische, aber auch rechtskonservative Präsidenten die Macht inne. Die außenpolitischen Beziehungen zu den USA, der Europäischen Union und vor allem auch zu Deutschland sind nach wie vor traditionell gut. Komittees zur Wahrheitsfindung sind bis heute damit beschäftigt, die Verbrechen der Militärdiktatur aufzuklären, Pinochet selbst ist 2006 verstorben, ohne je verurteilt worden zu sein.

Vor wenigen Wochen erschütterten schwere landesweite Unruhen den scheinbar friedlichen Staat: Die Menschen protestierten gegen die ungerechte Verteilung des Reichtums, Anlass war eine Fahrpreiserhöhung im öffentlichen Nahverkehr. Wegen der anhaltenden Proteste sagte die Regierung die UN-Klimakonferenz ab, die geplant im Dezember 2019 in Santiago de Chile abgehalten werden sollte.

Angekommen in Santiago

Unser Hostel erweist sich als Glücksgriff, ein schönes Haus von 1900 voller netter Leute. Und ein zurückgelassener Chile-Reiseführer in Buchform wartet auch schon im Tauschregal auf uns! Am liebsten würden wir unseren stattdessen reinstellen, geht aber nicht. Ist ja ein Download auf dem Ereader. Nie wieder würde ich einen Reiseführer fürs Ebook kaufen, völlig unbrauchbar. Wir duschen und schlafen ein paar Stunden unseres Jetlags weg. Danach fühlen wir uns fit genug für einen Spaziergang in die City und haben unsere erste Begegnung mit der chilenischen Küche. Die Stadt fühlt sich freundlich, lebhaft und recht schwungvoll an, wenn auch viele verlassene und verfallene Gebäude mitten in der Innenstadt derzeit nur den einen Daseinszweck als Streetart-Träger haben. Ein paar mit Brettern vernagelte Schaufenster und mehrere gepanzerte, vergitterte schwarze Polizeibusse, verbeult und von Farbbomben verkleckst sind am Straßenrand zu sehen. Ein Supermarkt im Zentrum ist mit Stahlplatten verbarrikadiert, es bleibt nur eine schwere Eisentür zu den Verlockungen des Konsums.

Offenbar sind dies Überbleibsel der Unruhen vor zwei Monaten. Jedenfalls scheint uns die Stadt lässig – liberal. Wir sehen in einer Stunde mindestens vier Paradiesvögel: Bunte Schwule und Diverse. Ein Transgender berät uns bezüglich unserer SIMkarten für die Handys.

01.02.2020 Santiago de Chile

Und die beschäftigen uns dann auch fast den ganzen Tag lang immer wieder. Gut, dass wir inzwischen einigermaßen relaxed sind und nichts auf Teufel-komm-raus erzwingen. So genießen wir die angenehme Atmosphäre der Stadt, schlendern über die geschäftigen Straßen voller Händler und Geschäfte, sitzen gemütlich in den einladenden Straßenlokalen, von wo man dem Trubel sehr gelassen zusehen kann. Es gibt hier übrigens hervorragenden Wein zu sehr verführerischen Preisen. Mit dem Problem „online-Status-herstellen“ beschäftigen wir uns zwischen unseren Besuchen im Stadtzentrum, beim Zentralmarkt und beim Museo de la Solidaridad Salvador Allende. Am Plaza de Armas schauen wir den alten Herren beim Schachspiel und den jungen Frauen beim Balzen zu. Letztere tragen ihre weiblichen Rundungen sehr freizügig zur Schau, überwiegend sehr gut bestückt, aber knapp bedeckt. Hautenge kurze Hosen oder Minis zu knappsten Oberteilen – und das obwohl die heiligste Kathedrale de la Serena in Steinwurfweite liegt. Doch damit nicht genug: Selbst im Inneren der Kathedrale sieht man die Entblößten, wie sie sich Weihwasser auf die Stirne tupfen! Hier hat der Katholizismus seine stärksten Bastionen und blüht gleichzeitig hoffnungserweckend. Santa virgen Maria, redimirnos!

Letzte Etappen in NZ

26.01.2020 Odyssee und miese Höhle

Ein langes Wochenende steht an! Montag ist Feiertag und jeder hat frei. Entsprechend geht es auf den Straßen, an den Stränden, eigentlich überall rund. Wir wollen die Waipu Höhle besichtigen und nehmen dafür sogar eine 19 Kilometer lange Schotterstraße durch die Berge auf uns. Der Parkplatz an der Höhle ist dann genauso enttäuschend wie die Toilette – alles voll. Die Höhle macht auch keinen Spaß, denn auch sie ist voll. Wir treten den Rückzug an und versuchen unser Glück an den verschiedenen Stränden in der Nähe. Aber es ist überall das gleiche: Menschen, Autos, Boote… kein Platz. Letztlich fliehen wir in die Berge und stellen uns auf einen kleinen Eco Retreat mitten im Nirgendwo. Hier weht wenigstens ein leichter Wind. Barry und seine Frau haben sich für den Ruhestand ein großes Stück Land nahe am Bald Rock gekauft uns verwandeln das ehemalige Farmgelände Stück für Stück in eine Mischung aus Farmstay und Campingplatz. Sie vermieten auch kleine Wohnwürfel und Bauwagen, Dusche und Strom sind solarbetrieben. Wir genießen noch einmal die Ruhe und campen weitab von allen anderen ganz allein im Wald auf einem Berg: Die Sonne geht hier nur für uns unter und die Sterne leuchten exklusiv!

Der Zufall schickt uns durch dichten Rückreiseverkehr zur Stillwater Reserve, einem in die Jahre gekommenen großen Campground neben einer kleinen Flussmündung an der Hibiscus Coast. Im Brackwasser des Flusses kann man baden, doch wir sind die einzigen, die es wirklich tun. Wir sollen aufpassen, dass wir auf keine Stachelrochen treten, rät uns ein älterer Herr. Überhaupt ist dieser Platz voller Kiwi-Dauerbewohner, außer uns gibt es keine ausländischen Tagesgäste. Der volltätowierte Nachbar grüßt nicht nur sehr freundlich, er bewohnt ein Mega-Wohnmobil. Der alte Linienbus ist sicher 15 Meter lang und verfügt über Holzofen, ein Riesenvorzelt und einen Werkzeugschuppen. Ich spreche ihn darauf an: Er sei ja scheinbar ziemlich gut ausgerüstet, ob er nicht vielleicht eine Ratsche mit 14er Nuss und Verlängerung für mich hätte? Ja klar, er ist gern behilflich. Eine halbe Stunde später habe ich den Beifahrersitz aus- und wieder eingebaut. Andreas verschwundener Ohrring ist wieder da!

Wie bringt man den Inhalt eines Wohnmobils in zwei Rucksäcke? Als die Sonne schwächer und es halbwegs erträglich wird, beginnen wir den Bus komplett auszuräumen. Sogar die verloren geglaubte Stirnlampe taucht wieder auf! Zwei Monate haben wir nun in unserem Toyota Hiace gewohnt, aber in jeder einzelnen Ritze und in jedem hinterletzten Winkel ist irgendein wichtiges Teil für eine Weile abgetaucht. Wir waschen ein letztes Mal in Neuseeland eine Maschine Wäsche und verabschieden uns von dem ein oder anderen Kleidungsstück, das allzu löchrig oder fleckig geworden ist.

Am nächsten Morgen treten wir die letzte Etappe nach Auckland an. Durch das vorangegangene lange Wochenende sind nach wie vor alle Straßen verstopft. Sobald wir den State Highway 1 erreichen, geht so gut wie gar nichts mehr. Für die gut 30 Kilometer brauchen wir fast zwei Stunden. Die Jucy-Zentrale Auckland liegt am internationalen Airport. Mit ein wenig Wehgefühl geben wir das Auto ab: 7148 Kilometer hat das treue Gefährt uns durch Neuseeland getragen. Unser indischer Transfer-Taxler bringt uns sofort wieder in eine andere Dimension des Reisens! Die letzten Monate hatten wir ja stets unser eigenes Schneckenhaus dabei, das ist jetzt vorbei. Der hyperaktive Inder versichert uns auf den zehn Minuten Fahrt bestimmt 20 Mal, dass wir bei ihm in den besten Händen seien und er uns direkt an der Haltestelle für den Citybus absetzen würde. Den Rest kann man nicht verstehen, denn sein Englisch ist ziemlich schlecht.

Wir entscheiden uns für ein Returnticket, denn übermorgen müssen wir ganz zeitig wieder am Flughafen sein. Günstiger als mit dem Skybus kommt man nicht zum Flughafen. S-Bahn oder sonstige öffentliche Verkehrsmittel außer ein paar Bussen gibt es nicht. Entsprechend chaotisch sind die Straßenverhältnisse. In Auckland wohnen etwa 1,5 Millionen Menschen, in ganz Neuseeland vier! Die Stadt wächst überproportional und die Infratruktur kommt nicht mit. 40% der Einwohner sind keine gebürtigen Kiwis, sondern Einwanderer, vor allem aus Asien. In der City angekommen stellen wir das Gepäck im Jucy-Hostel ab und machen uns zu Fuß auf eine kleine Erkundungstour durch den Hafen. Die Luxusyachten im Hafen sind teilweise drei- bis fünfmal so groß wie die Wohnmobile und Tinyhäuser, die wir so auf den Campgrounds hier gesehen haben. Meist wohnten da Rentner drin, die ihr festes Haus aus Kostengründen aufgegeben hatten und ganz ins Mobilheim gezogen sind. Was wohl so ein Liegeplatz in der ersten Reihe kostet?

Strandleben und Poor Knights

Die Strände hier sind gigantisch: Schön und riesenhaft. Locker 200 Meter zwischen Dünen und Brandungszone. Die Wellen sind so mächtig, wir trauen uns nur dort ins Wasser, wo ein Rettungsschwimmer Wache hält. Meist ist es ein kleiner Bereich, den die gelb-rot gekleideten Lebensretter mit Fahnen markiert haben. Sie haben einen kleinen Beachbuggy, ein Motorboot und ein paar Bojen und Leinen dabei.

Mit der Brandung und vor allem mit der Strömung ist nicht zu spaßen! Ein paar Mal reißt es mich derart gewaltig von den Füßen, dass ich momentan nicht mehr weiß, wo oben und wo unten ist. Zum Glück habe ich dabei keinen Schürfkontakt zum Sandboden – das kann blutig ausgehen. Heute verbringen wir die Nacht in Tutukaka, benahe so schön wie im Takatukaland. Morgen wollen wir auf den Poor Knights tauchen gehen!

Die zwei Tauchgänge sind kein billiger Spaß, 319NZ$ pro Nase. Dafür sehen wir einen der besten Tauchplätze weltweit! Schon auf der 45minütigen Überfahrt sehen wir eine Gruppe riesiger Tümmler: Ein Anblick, der verzaubert. James Cook kam hier 1769 vorbei und entdeckte die Poor Knight Inseln, kartografierte und benannte sie. Angeblich erinnerte ihn die Silhouette an einen gefallenen Krieger auf dem Schlachtfeld, bedeckt von seinem Schild – zu arm für ein Begräbnis.

Ursprünglich war hier ein riesiger Vulkan mit 24 Kilometer Durchmesser, doch das ist schon 150 Millionen Jahre her. Die Fauna ist fantastisch. Schon vom Boot aus sehen wir riesige Schwärme blauer Maomaos im glasklaren Wasser. Unter Wasser begegnen uns nicht nur nicht enden wollende Schwärme von Demoiselles, neugierige Zackenbarsche, gähnende Muränen, schlafende Papageifische, wunderhübsche Nacktschnecken und vieles mehr. Das Tauchen im Kelp ist eine ganz andere Sache als alles, was wir bisher erlebt haben. Die riesigen Wasserpflanzen sind mit stabilen tentakelartigen Greifwurzeln auf den Felsen verankert. Die Stängel sind derb und extrem stabil – das müssen sie auch sein, um Brandung und Stürmen zu trotzen. Wenn unter dir beim Tauchen ganze Felder von Blättern in der Dünung schwanken, kann es dir leicht übel werden. Trotzdem ist es ein wunderbarer Anblick. Unser Skipper erzählt uns in der Oberflächenpause zwischen den beiden Tauchgängen von dem Stamm, der einst hier lebte. Da einst Cook auf den Inseln Schweine aussetzte, gab es hier jagbares Wild, während auf dem Festland seit der Ausrottung der Moas die einzigen größeren Tiere Ratten und Fledermäuse waren. Der Stammeshäuptling der ansässigen Maori war recht geschäftstüchtig und verkaufte das Schweinefleisch gewinnbringend an die Stämme am Festland. Eines Tages beschloss einer der Häuptlinge an der Westküste, dass diese Schweine eine große Bereicherung für seine Speisekarte wäre und er gern selber welche haben wollte. Also durchwanderte er mit seinen Leuten das ganze Land, baute sich an der Küste ein Kanu, ruderte hinüber zu den Poor Knight Inseln und fragte nach lebendigen Schweinen. Der Inselhäuptling aber wollte keineswegs sein Monopol aufgeben und sagte nein. Unverrichteter Dinge zog der Mann heimwärts, übel grollend und tief in seinem Stolz verletzt. 14 Jahre später kam er zurück, um sich zu rächen. Nunmehr mit Feuerwaffen ausgerüstet, die er von den weißen Siedlern eingetauscht hatte, setzte er abermals über und richtete ein Massaker an unter den Inselbewohnern. Kaum jemand überlebte, seither sind die Felsen tabu, ein Ort, wo man nicht hingehen darf. Die Natur ist dankbar! Hier gibt es halbmeterlange Skolopender, 120 Jahre alte Flaxschnecken und über handtellergroße Riesen-Weta, eine Art Grille oder Schabe.

25.01.2020 Sandy Beach, Whangaumu Beach, Wellington Bay

Gestern noch haben wir neben der Maorifamilie am Sandy Beach gecampt und Seeigel (urchins) zu essen bekommen. Man bricht sie mit zwei Löffeln auf und isst sie lebendig. Uns genügt ein kleiner Probierhappen, die Dinger sind schlabbrig und schmecken extrem salzig. Mit unserer Parkplatznachbarin und ihrer kleinen Tochter frühstücken wir am anderen Morgen. Die beiden leben in diesem Auto, nur im Winter ziehen sie zu Verwandten in ein richtiges Haus. Aber ganz glücklich scheint uns die Frau nicht. Ihr Partner und Vater des Kindes stammt von einer Südseeinsel und ist viel unterwegs. Seine Leute wohnen in der Nähe, aber es ist nicht einfach mit ihnen zusammenzuleben. Immer, wenn sie sich durch ihren Jadeschmuck etwas erarbeitet oder gekauft hat, kommt jemand aus dem Clan, findet es schön oder praktisch und nimmt es sich. Das sei ganz normal, so leben die eben, meint sie. Aber sie hat sich noch nicht so ganz daran gewöhnt.

Wir genießen die letzten Tage unseres Vagabundenlebens, besuchen keinerlei Sehenswürdigkeiten, sondern suchen uns ein weiteres schönes Strandplätzchen. Länger als eine Nacht dürfen wir nicht auf einem Parkplatz bleiben, allabendlich kommen die Ranger zur Kontrolle. Wenigstens sind sie freundlich, solange alles passt: Self-contained muss das Auto sein und natürlich muss man seinen Müll wieder mitnehmen.

Blaue Quellen, Hobbingen und Glühwürmchen

Blue Springs, Hobbiton, McLaren Falls

Unser Maoriwirt in Putaruru hat noch einen Tipp für uns: Die Blue Springs des Waihou River sind die Quellen, wo ein Großteil des Mineralwassers in Neuseeland abgefüllt wird. Das Wasser braucht 50 bis 100 Jahre, um einen Gebirgsstock zu durchdringen. Wenn es dann wieder zu Tage tritt, ist es unglaublich klar. Mich erinnert es an den grünen See in der Steiermark, nur dass hier der Grund des Gewässers grün bewachsen ist und die langen Wasserpflanzen wunderbar in der Strömung hin und her treiben.

An der Little Waipo Reserve verbringen wir einen geruhsamen Nachmittag, bis wir uns zu unserem Termin in Hobbingen aufmachen. Wir haben eine Tour über den Movieset gebucht und sind gespannt auf das Auenland. Leider sind wir nicht die einzigen, die diese Idee hatten. Am „Shire“ angekommen, einem riesigen Parkplatz mit Touristenverteilerstation, Café und Andenkenladen werden wir unserer Gruppe zugeteilt und dürfen mit 40 anderen Besuchern einen Reisebus besteigen. Unsere Führerin ist sehr nett, aber die Taktung, mit der man hier durchgeschleust wird, ist extrem eng. Das Auenland ist schön, fast größer, als ich es mir vorgestellt hatte. So dauert die Tour inklusive Bierverkostung im Hobbitwirtshaus knapp zwei Stunden.

Am Campingplatz McLaren Falls schlägt dann wieder die Natur zurück: Extrem distanzlose Gänse, Enten und Schafe begutachten sehr interessiert unsere abendliche Nahrungszubereitung. Ständig zwicken mich die Tiere in die Wadeln. Trotzdem bekommen sie nichts ab. Spaghetti mit Thunfischsoße sind erstens nichts für sie, zweitens haben wir selbst so viel Hunger, dass wir nichts entbehren können. Der Wald mit den Glühwürmchen ist unbeschreiblich! Wir wandern in der späten Dämmerung ein kurzes Stück durch den nächtlichen Naturpark zu einer engen Schlucht. Seitlich des Baches, den wir kaum sehen, eher erahnen, blinken die ersten Lichter. Ein paar Meter weiter tasten wir uns in die Dunkelheit: Es werden immer mehr Lichtpunkte. Stellenweise sind die kleinen Glühwürmchen so zahlreich, dass sie den Pfad matt erleuchten. In großen Kolonien sitzen sie auf der Unterseite der Böschung, manchmal in Kniehöhe, manchmal auch hoch über unseren Köpfen. Die Stimmung ist wie in einem Zauberwald: Wir hören ein paar späte Vogelstimmen und das Gurgeln des Wassers, sind umgeben von der unwirklich blaugrünen Beleuchtung tausender glühender Lichtpünktchen und über uns sehen wir durch die Baumkronen einen kleinen Ausschnitt der Milchstraße. Wer würde da nicht ins Schwärmen kommen?

Rotorua und Rafting

Te Pua ist ein Erlebnispark der besonderen Art: Auf dem weitläufigen Gelände gibt es viele Fumarolen, also Löcher in der Erdkruste, aus denen Dampf aufsteigt. Darüber hinaus kocht in einigen Kuhlen blubbernder Schlamm. Es gibt ein Nachthaus mit Kiwis sowie einen riesigen Geysir, der beinahe pünktlich jede Stunde eine 30 Meter hohe Dampf- und Wasserfontäne ausspeit. Ausstellungen und Darbietungen zur Kultur der Maori komplettieren das Angebot.

Rotorua dagegen finde ich schrecklich, weil voller Touris. Es sind so viele Menschen hier, dass wir keinen Platz auf einem Camperer ergattern können. Dabei wollten wir unbedingt duschen! Also fahren wir zurück zum Okere Wasserfall und baden uns dort im Fluss – statt duschen, aber natürlich ohne Seife. Die Nacht bleiben wir auf dem freeCamping Parkplatz.  Mit Giada und Ettore, unseren italienischen Nachbarn unterhalten wir uns noch sehr gut und lange.

Der weltweit höchste Wasserfall, der von kommerziellen Raftingtouranbietern befahren wird, ist der sieben Meter hohe Okere Fall. Der glasklare Fluss Kaituna schlängelt sich hier durch schroffe Felsen. Gestern Abend hatten wir noch beobachtet, wie ein paar Rafts den Wasserfall herabgestürzt sind, heute sind wir mit dabei. Eine Riesengaudi! Sechs Leute, ein Guide und ein Gummiboot, das sind die Zutaten. Vierzehn Wasserfälle und zahllose Stromschnellen durchfahren wir in einer guten Stunde.

Schwefeldampf und Hippie-Moki

Lisa ist 58. Vor acht Jahren hat sie sich ihr Moki, das traditionelle Gesichtstattoo stechen lassen. Eigentlich, finden wir, sieht sie gar nicht so Maori-like aus, aber die Oma und die Uroma waren Maorifrauen. Ich frage sie, ob das nicht wahnsinnig weh getan hat: Ihr ganzes Kinn und die Unterlippe sind mit geschwungenen, schwarz ausgefüllten dicken Linien bedeckt. Die Oberlippe ist komplett gefärbt. Darüber hinaus trägt sie ein Emblem in der Mitte der Stirn und weitere Tattoos auf Hals, Händen und Oberarmen. Ja, sagt sie, der Schmerz sei fast unerträglich gewesen, besonders an den Lippen. Aber sie fand es einfach wichtig, zu den Traditionen und der Kultur ihrer Ahninnen zu stehen. Sie führt die Awhi Farm, ein Zentrum für nachhaltiges Leben. Wir haben die Gelegenheit, hier zu übernachten und genießen die positive Atmosphäre des Ortes. Nachhaltigkeit praktiziert Lisa hier schon seit rund zehn Jahren: Solarduschen, ökologischer Gemüseanbau, Komposttoiletten und Unabhängigkeit vom Stromnetz gehören dazu. Das Ganze wird durch junges WooF-Personal (Working on organic Farms) aus aller Herren Länder unterstützt. Eine wilde kleine Kommune, die versucht ein bisschen Etwas zur Rettung des Planeten beizutragen. Wir freunden uns mit Honey, der Farmhündin und Künney, der Haussau an. Beide wohnen ganz dicht neben der Küche, eigentlich schon fast in der Küche, denn da fallen wohl die besten Leckerbissen ab. Alle Facilities sind in kleinen offenen Hütten untergebracht, die sehr fantasievoll ausgebaut und angemalt sind. Ein wunderbarer Platz!

Taupo sticht dagegen total durchgestylt und tourimäßig ab. Alles ist voll mit Motorbooten, Campervans und Heerscharen von Menschen. Die Stadt ist voll auf Fremdenverkehr eingestellt. Überall geht es rund, die Straßen sind voller Autos, die Gehsteige voller Menschen. Mir wird schon ganz anders. Endlich finden wir das i-Site, eine Art Tourismusbüro. Ich bin enttäuscht, als die Dame am Empfang  es ablehnt, unser Tablet zu laden. Nach zwei Tagen im Outback sind die Akkus erschöpft – eigentlich hatte ich auf mehr Freundlichkeit gehofft. Aber der Tourismus ist inzwischen eine respektable Geldquelle für Neuseeland geworden, und so lässt man eben nichts aus. Ich könne das Gerät schon hier laden, aber dafür müsste ich dann soundsoviel bezahlen. Ich lehne dankend ab und verlasse den Ort des Grauens. So lange, wie das Laden dauert, kann ich es hier nicht aushalten.

Ein kurzer Abstecher zum Huka-Fall bestätigt mir dieses Gefühl: Auf der kleinen Brücke über den Wasserfällen drängeln sich etwa 30 Personen,  meine Laune rauscht schneller talwärts als das Wasser hier. Wir fliehen Richtung Nordost in die Nähe der Thermalquellen und der seismisch aktiven Zone von Rotorua. Ein kurzer Besuch bei den „Craters of the Moon“ stimmt uns ein: Hier gibt es Fumarolen und kleine kochende Schlammtümpel zu sehen. Über der gesamten Gegend liegt ein dezenter Duft von fauligen Eiern – Schwefeldampf.

Abgesehen davon nimmt die allgemeine Verlotterung nun wirklich drastische Formen an. Statt zu duschen, gehen wir kurz in einem eiskalten See schwimmen – das ist ja noch akzeptabel. Socken in Sandalen sind zugegebenermaßen stiltechnisch inakzeptabel, kältebedingt jedoch normal. Die Steigerung: lange Hosenbeine in den Socken (die in Sandalen stehen) – ein ModeGAU, aber: Wenn doch die Sandfliegen jeden unbedeckten Millimeter Haut gnadenlos attackieren! Der Superlativ: All die vorher genannten Verfehlungen, und dazu noch ein offener Hosenstall. Hier schaut keiner, niemand nimmt Anstoß, es ist schlichtweg egal. Hier laufen so viele Leute derart lässig-schlabbrig rum, es ist unglaublich. Sobald man eine der Schiebetüren öffnet, steigt sowieso irgendein Kleidungsstück aus. Bevorzugt die schwarzen langen Unterhosen, die wir beinahe jede Nacht anhaben, fliehen aus dem Auto und suhlen sich im Dreck… entsprechend hängen sie voller trockener Grashalme, das sieht sehr hübsch aus.