Die Landschaft ist wunderbar öde und weit. Kaum etwas ist da, an dem sich das Auge festhalten kann, nur leere, trockene Steppe mit ein wenig Gras und etwas niedriges Strauchwerk. Die Bäumchen, die hin und wieder in flachen Mulden stehen sind windschiefe Krüppel, verdreht und schief, tragen lange Bärte aus Flechten, dafür kaum Blätter. In einem flachen Salzsee steht eine Gruppe rosafarbener Flamingos. Nach eineinhalb Stunden erreichen wir die erste Siedlung am Weg: Tehuelches hat etwa 30 Häuser. Nach etwa zwei Stunden wird das Land hügeliger, die Bäume höher, doch kurz darauf wieder flache Steppe. Wie viele zigtausend Kilometer Zaun hier wohl verbaut sein mögen? Immer sieben oder acht Stempen, dann ein größerer Pfosten, zehn Stempen, ein größerer, verbunden mit fünf endlosen Drähten. Irgendwo muss es wohl auch Schafe geben wozu wären da sonst die Zäune? Ab und zu sieht man welche, dann auch ein paar Pferde in der Endlosigkeit. Die Wolken treiben über diese wunderbare Weite dahin, damit ihr Spiel von Licht und Schatten die Steppe ein wenig belebt.
Mit Letizia und Esteban unterhalten wir uns super, wenn auch immer nur unter Zuhilfenahme vieler Hände und Füße. Übersetzer-Apps helfen schon bald nicht mehr, denn wir sind mit dem Ausflugsschiff in der zerklüfteten Fjordlandschaft um Puerto Natales unterwegs und schon bald ohne Netz. Die beiden sind aus Conception in der Mitte Chiles und machen hier Urlaub. Er handelt mit Fisch und Meerestieren. Natürlich reden wir auch über die abnehmenden Fischbestände, unsere Länder und das Reisen. Die politische Situation in Chile gefällt Esteban gar nicht. Der Mittelstand verliert immer mehr Einkommen, die Reichen werden immer reicher, der Liberalismus blutet Land und Menschen aus. Wir erfahren, dass im April ein Referendum abgehalten werden soll, keine Wahl. Es geht um eine Änderung der Verfassung, die Opposition möchte, dass der Staat auch für Bildung und Gesundheitsvorsorge in Verantwortung tritt. Momentan sind weiterführende Schulen und insbesondere Universitäten derart teuer, dass sich die meisten jungen Chilenen gegen eine Familiengründung entscheiden oder höchstens ein Kind haben – aus Kostengründen.
Der Ausblick auf die
wolkenverhangenen Berge entlang des Ultima Esperanza Sound (Fjord der letzten
Hoffnung) ist beeindruckend, bei Sonne wäre er bestimmt noch schöner. Wenn wir
an Deck gehen, bläst es uns beinahe um, der Wind ist extrem. Wir fahren
geradewegs auf den 2035 Meter hohen Berg Balmaceda zu und sehen den
gleichnamigen Gletscher ein paar Dutzend Meter über der Meeresoberfläche enden.
Anschließend drehen wir nach Nordosten ab und legen vor der Laguna Serrano an. Wir
steigen aus und gehen eine kurze Wanderung zum Serranogletscher. Markierungen
zeigen an, wie weit das Eis vor zwanzig und vor vierzig Jahren noch reichte. Es
sind etwa 500 und 1000 Meter Unterschied! Die Crew serviert Whisky mit
Gletschereis, um auf der Rückfahrt die Stimmung zu heben.
Heute haben wir außer einer Stadttour zu Fuß nichts weiter vor. Der junge Guide erzählt Details aus der Stadtgeschichte. Im Jahre 1919 gab es größere Arbeiterrevolten, in deren Verlauf auch das Handelhaus der Familie Braun angezündet wurde. Gebracht hat es den Arbeitern aber nichts, weder ihre Forderungen nach besserer Bezahlung oder Versorgung noch Gewerkschaften wurden ihnen zugebilligt, obwohl der Aufstand auch auf die Region und bis ins benachbarte Argentinien übergriff. Über tausend Arbeiter ließen dabei ihr Leben, die Mächtigen trieben ihr Spiel aber weiter wie zuvor. Die Gegend war unter wenigen riesigen Großgrundbesitzerfamilien aufgeteilt. Manche davon bezahlten Kopfgeldjäger für die abgeschnittenen Ohren der letzten der noch hier lebenden Indianer. Durch Vertreibung und Krankheiten sind diese jedoch spätestens bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ausgerottet worden.
Die Magellanpinguine auf der Isla de Magdalena haben ihre ganze Insel für sich. Besucher dürfen nur auf einem abgesteckten Pfad einen etwa zwei Kilometer langen Rundweg gehen, aber sobald ein Pinguin über den Weg will, hat dieser „Vorfahrt“. Die Ranger und Guides passen sehr gut auf, dass sich alle Touristen daran halten. Uns gefällt der Besuch bei den putzigen Vögeln sehr, auch wenn der Wind extrem kalt ist und von allen Seiten zugleich zu blasen scheint.
Magellanpinguine werden bis zu 25 Jahre alt, sind etwa vier Kilogramm schwer und bis zu 70 Zentimeter groß. Sie tauchen etwa 12 Minuten lang und bis zu 100 Meter tief nach ihrer Nahrung, Sardinen und ähnlichen kleinen Fischen. Wenn sich ein Paar gefunden hat, graben sie flache Erdhöhlen und das Weibchen legt nach nur zwei bis drei Tagen zwei Eier. Beide Eltern wechseln sich beim Brüten und später beim Großziehen der Küken ab. Da hier in der Magellanstraße das Nahrungsangebot so reichhaltig ist, kann ein Alttier schon nach sechs bis acht Stunden genug Fisch für sich und den Nachwuchs fangen. In anderen Kolonien, etwa auf den Falklands dauert dasselbe zwei Tage – dort überleben selten beide Küken, während das hier auf Magdalena die Regel ist. Sobald die Kleinen ihren Federflaum verloren haben und das wasserdichte Federkleid der Erwachsenen tragen, ziehen alle Tiere der Familie ihrer getrennten Wege. Die Jungen wandern vier Jahre auf der Südhalbkugel mit den Meeresströmungen über Argentinien bis Brasilien den Atlantik hoch, andere wählen die Pazifikseite und kommen bis Nordchile oder weiter. Viele tausende Kilometer schwimmen sie, ohne jemals festes Land zu betreten. Die Jungen suchen sich zur Paarungszeit und Brut nach vier Jahren einen Partner, der dann lebenslang der gleiche bleibt. Erstaunlich, wie die Tiere nicht nur genau zurück zu dieser winzigen Insel, sondern auch zu ihrem Partner und zur alten Bruthöhle finden.
Der Friedhof von Punta Arenas ist nicht nur einer der südlichsten Chiles, sondern es soll auch der schönste ganz Südamerikas sein. Uns beeindrucken die aufwendigen Gruften reicher Großgrundbesitzer kaum mehr als die einfachen Grabstellen armer Leute. Egal wie viel Geld einer gehabt haben mag, von den meisten bleibt nur ein Name und vielleicht ein paar Zahlen auf einem Grabstein. Viele der Grabstellen sind verfallen, die wenigsten scheinen regelmäßig gepflegt zu werden. Offenbar werden die Gräber hier nicht bloß für ein paar Jahre vermietet. Plastikblumenschmuck oder wilde Ringelblumen und Mohn? Geschmackssache. Kilometerlang sind die Wände mit den Urnenfächern. Viele davon haben die bizarr mit Nippes dekoriert. Plastikschafe, Winkekatzen und Schneemänner lassen auf Vorlieben der Verstorbenen oder der Hinterbliebenen schließen.
Am Denkmal des unbekannten Indiojungen hängen viele Danktafeln für erfüllte Wünsche. Aufgestellt wurde es hier um an die zahllosen Menschen der indigenen Völker zu erinnern, die von den weißen Siedlern umgebracht wurden. Es soll Glück bringen, der bronzenen Staue des Indianers die Hand zu schütteln, jedenfalls ist das Metall dort ganz blank. Genauso der glänzende Fuß des Indianers am Denkmal Hernando Magellans: Ich sehe zu, wie ein Mann seinen kleinen Sohn hochhebt, damit dieser sich an den Fuß hängen und diesen küssen kann. Warum frage ich mich, mussten die Völker der Selk‘nam und Yaghan erst ausgerottet werden?
Wir laufen rund vier Kilometer an der Autobahn entlang. Der eisige Wind bläst uns zum Glück in den Rücken. Nur wenn wir uns umdrehen, bläst er uns ins Gesicht. Warum müssen wir uns überhaupt umdrehen? Um zu schauen, ob nicht vielleicht doch ein Collectivo, ein Sammeltaxi in unserer Richtung unterwegs ist. Für 500 CLP (60 Cent) kann man einsteigen und so weit mitfahren, wie man möchte. Aber nur, wenn gerade ein Collectivo da ist. Unserem Fall eben leider gerade nicht. Eigentlich sind wir heute schon genug gewandert. Erst waren wir im Nationalpark. Etwa acht Kilometer sind wir durch einen wunderbaren Wald südlicher Buchen und über Hochmoor- und Heidelandschaften gelaufen, leider die meiste Zeit im Regen und schneidenden Wind.
Am nordöstlichen Ende der Stadt gibt es ein Schiffsmuseum. Zwischen Werftgeländen und Freihafen hat dort ein Mann seine Mission gefunden: Er baut historische Schiffe nach. Die Victoria, mit der Magellan 1519 die Welt umsegelte, sowie Darwins Beagle. Auch Shackletons Ruderboot liegt hier im originalgetreuen Nachbau, Maßstab 1:1. Unfassbar, dass Menschen mit diesen vergleichsweise winzigen Wasserfahrzeugen riesige Ozeane überquert haben.
Kennt ihr die Geschichte von Ernest Shackleton? Ein echter Held und verhinderter Entdecker. Bei einer gescheiterten Südpolexpedition (1914-17) wurde sein Schiff, die Endurance im Packeis festgefroren und nach fast einjähriger Drift zerquetscht. Die Männer campierten monatelang auf einer Eisscholle, bis sie mit den drei Rettungsbooten viele Kilometer durchs Treibeis der Antarktis zur unbewohnte Insel Elephant Island manövrierten. Da diese jedoch öde und weitab aller Schiffahrtsrouten lag, machte sich Shackleton mit fünf seiner Leute auf, Hilfe zu holen. Mit einem winzigen Ruderboot segelten sie mit dem Mut der Verzweiflung 15 Tage lang bis Südgeorgien, wo sie schließlich auf Walfänger trafen. Doch es dauerte noch Monate und mehrere Versuche, bis Shackleton auch die zurückgebliebenen Männer von Elephant Island holen konnte. Ironie der Geschichte: Alle Mitglieder überlebten diese unglückliche Expedition in Kameradschaft und Fürsorge ihres Leiters. Wenige Monate später ließen die meisten ihr Leben auf den Schlachtfeldern des ersten Weltkrieges. Wir können in die Schiffe klettern und uns fühlen, wie damals die Entdecker. Und das am historischen Ort, direkt an der Magellanstraße! Am meisten berührt hat mich die Geschichte von Jemmie Button. Der junge Feuerlandindianer wurde wohl von Kapitän Robert FitzRoy, dem Kapitän der Beagle im Jahr 1830 entführt – oder nach anderer Lesart für einen Knopf gekauft und nach England mitgenommen. Im Jahr darauf, auf der zweiten Fahrt der Beagle brachte man ihn zurück in seine Heimat. Nach anfänglichen Schwierigkeiten hat er wieder bei seinem Volk Fuß gefasst und wollte auch später nicht mehr nach England zurück. Angeblich war Jemmy im Jahr 1859 am Wulaia Massaker beteiligt, als eine Gruppe Missionare von Yaghan Indianern getötet wurden. Michael Ende inspirierte die Geschichte Jemmy Buttons zu seinem Buch Jim Knopf.
Puerto Montt hat uns mit Regen überschüttet, das Museum, das wir besuchen wollten, hat zu und sonst gibt es hier NICHTS für uns zu gewinnen. Unser Versuch, einen Ausflug zu den Pinguinen in Punta Arenas zu buchen ist auch fehlgeschlagen. Wir fliehen ins Jumbo Einkaufszentrum, bestaunen den Konsumtempel und essen in der Cafeteria eine schlecht angemachte gefüllte Avokado. Als der Regen nachlässt, kommt tatsächlich wieder die Sonne raus. Wir laufen zur Hospedaje und schwören, nie wieder ohne Regenjacke und Wanderschuhe loszugehen.
Fünf Decken braucht man hier!
Die nächsten Stunden
verbringen wir in unserem schiefen Aufenthaltsraum zwischen den verschiedenen
Bildschirmen hin- und her navigierend. Wir versuchen, Klarheit über unsere
weitere Reiseroute zu erhalten. Ein Reiseplan ist rasch geschmiedet, doch spannend
wird die Umsetzung. Ich versuche, einen Bus zu buchen: Die Verbindung Punta
Arenas – Ushuaia ist gefragt. Kaum eine halbe Stunde dauert es, bis alle
erforderlichen Daten ins Online-Formular eingetragen sind. Warum, frage ich
mich, müssen wir da eine deutsche Adresse, Telefonnummer, Beruf und
Familienstand eingeben? Die Passnummern wissen wir inzwischen sowieso schon
auswendig. Als es ans Bezahlen geht, kommt der Clou: Die Anweisung per Kreditkarte
funktioniert nur mit einer Bestätigung über die Banking-App auf dem Handy.
Diese wiederum erfordert eine TAN. Selbstverständlich habe ich auch einen
mobilen TAN-Generator dabei. Mit zittrigen Händen schiebe ich die Scheckkarte
in den Schlitz und gebe den Code ein: Habe ich alles richtig gemacht? Da
rutscht mir das Gerät aus der Hand. Der Batteriedeckel öffnet sich und die
Knopfzellen springen munter heraus. Auf dem Schurwollteppich hört man weder
einen Aufprall noch ein Rollgeräusch, also verbringe ich die nächsten Minuten
im Vierfüßlerstand auf dem Fußboden. Als endlich alle Batterien wieder am Platz
und der Deckel eingesetzt ist, wundere ich mich, dass bisher kein Time-Out die
Verbindung gekappt hat. Der Schweiß steht mir auf der Stirn, erneut versuche
ich, die Bestätigung abzurufen. Doch die Maschine lacht mich aus, nur ein
kaltes „Kein Code“ prangt auf dem Gerät. Am Busbahnhof gibt es hoffentlich noch
einen Schalter.
Natürlich gibt es an
diesem Busbahnhof zu dieser Busverbindung keinen Schalter. Dafür hat nun das
Museum auf. Eine nette Ausstellung über die Stadtgeschichte und das große
Erdbeben von 1960. Das ausgestellte Sofa steht genau so schief wie in unserer
Unterkunft alle Möbel. Alles in Spanisch, keine Übersetzungen. Überhaupt ist
das Spanisch hier kein spanisches Spanisch, sondern definitiv eher chilenisch,
also ganz anders. Wir beschließen, nochmal essen zu gehen. In dem kleinen
Fischlokal über dem Markt gibt es jede Sorte Fisch, solange es Lachs ist. Andrea
mag keinen Lachs und bestellt ab. Daraufhin bringt die Kellnerin auch für mich
nichts. Dass das so bleibt, blüht uns erst nach zwei Bier und zwei Wein.
Hungrig, aber beschwingt verlassen wir die Servicewüste und suchen uns ein
anderes Lokal.
Fazit: Der Apfel-Nuss Kuchen von heute früh und die liebe Umarmung unserer Mitbewohnerin („Me encantan los abrazos!“) waren die Highlights des Tages. Aber immerhin. Daheim hat AKK gerade aufgegeben und die thüringischen Politikkapriolen sind miese Vorzeichen für unser Land. Dann doch lieber eine Umarmung von einer wildfremden Oma.
Denkmal für die deutschen Siedler
Punta Arenas
Was sagst du zu
einer Umarmung vom Taxifahrer, der dich gerade zum Flughafen gebracht hat?
Genau, du bist baff. Ich habe das Gefühl, dass es jetzt wirklich aufwärts geht.
Jedenfalls schmeckt der Chop Austral Calafate (eine Halbe leckeres Bier aus Patagonien)
Die Shrimps mit Knoblauchbutter sowie die Muschelsuppe sind mit das Beste, was
wir bisher in Chile zu essen bekommen haben. Andrea will unbedingt noch in die
Freihandelszone, um sich eine warme Daunenjacke zu kaufen. Ihren
neuseeländischen Farmerpulli hat sie in Auckland entsorgt, deshalb braucht sie
jetzt für die morgige Pinguintour etwas Warmes. Ich habe mich entschieden, auf
Kiwi zu machen und laufe im T-Shirt durch Punta Arenas, während alle anderen Leute
Steppjacken tragen. Hoffentlich geht das morgen auch so gut. Meine Pullis und
mein Stirnband sind nämlich komplett in der Wäsche.
Hah! Welch eine
Überraschung! Eben war ich beim Patron, um ihm zu sagen, dass wir morgen kein
Frühstück, sondern ein Lunchpaket brauchen (ein linguistisches Abenteuer!). Er
hat mich jedenfalls verstanden, nur ich eben seine Antwort nicht. Zum Glück kam
dann mein Engel um die Ecke, um zu dolmetschen. Das beste ist: Unsere Wäsche
ist tatsächlich schon fertig! Ihr könnt euch nicht vorstellen, welche Freude
das für uns ist. Nicht nur, weil ich morgen um den Pulli froh sein werde,
sondern überhaupt. Daheim, Wäsche sortieren und zusammenlegen: Höchststrafe! Lieber
wasche ich zwei Autos und räume den Keller auf. Hier dagegen: ein Genuss. Zuerst
wird misstrauisch der Wäschesack entpackt: Ist auch wirklich wieder alles da?
Ungern erinnern wir uns an verwitwete Einzelsocken und komplett verlorene
Unterhosen. Man nimmt jedes Stück zärtlich in die Hand, riecht behaglich am
frischen Duft und streicht über den sauberen Flor. Aaah! Welch ein Genuss!
Wieder frische Sachen für eine Woche!
Marta, Renata und Johanna, drei sehr nette junge Mädels aus Santiago lernen wir abends im Gemeinschaftsraum kennen. Sie haben hier Wanderurlaub gemacht, dürften also nicht aus allzu armen Elternhäusern stammen. Nichtsdestoweniger sind sie gar nicht begeistert von der politischen und gesellschaftlichen Situation ihres Landes. Anfang März, so sagen sie, sind die Schulferien vorbei, dann geht es mit den Demonstrationen und Aufständen weiter, kein Zweifel. Wir fragen nach ihrer Einschätzung, ob sich nach den im April angesetzten Wahlen etwas ändern wird: Nein, wahrscheinlich nicht. Es sei eh gleich, wen man wähle, die da oben verfolgen ja ohnehin ihre eigenen Interessen. Von den drei ist nur Johanna alt genug, wählen zu dürfen, die anderen beiden sind noch nicht volljährig. Dennoch hat Marta schon jetzt fest vor, sobald sie achtzehn ist nach Kanada zu gehen, in ihrem Land sieht sie keine Zukunft für sich.
Am zweiten Tag und nach vielen Besuchen im Handyladen funktioniert das Ding, aber schon am anderen Morgen versagt die SIMkarte leider wieder ihren Dienst. Es ist zum aus-der-Haut-fahren. Dieses ständige Auf und Ab zerrt an unseren Nerven. Einerseits haben wir hier einen fast vollkommen unbrauchbaren Reiseführer auf dem E-book – kauft euch NIE einen Reiseführer für E-book! Zum anderen ist der Internetzugang auch per Handy zwecks Routenplanung für Andrea sporadisch und wackelig, mit meinem neuen Handy gar nicht möglich. Ohne Internet ist man als Individualreisender komplett aufgeschmissen. Gestern kam bei Andrea nach all dem Herumtauschen der SIMkarten die Frage, wo denn eigentlich ihre deutsche SIM ist? Die Folge ist ein fast einstündiges komplettes Auspacken aller unserer Besitztümer, jede Tasche, jedes Fach haben wir umgedreht. Ganz zum Schluss, nach der dritten Runde haben wir sie tatsächlich im Geldbeutel gefunden. Aber die Nerven lagen blank. In Situationen wie dieser sind wir nahe dran, die ganze Sache hinzuschmeißen und abzubrechen. Jetzt sitzen wir im Bus von Villarica nach Puerto Varas, das liegt etwas nördlich von Puerto Montt. Die Dimensionen dieses Landes sind unglaublich. Obwohl die Straßen in diesem Landesteil sehr gut ausgebaut sind und der moderne Reisebus fast immer das erlaubte Höchsttempo von 100 Stundenkilometern fährt, scheint es, als ob wir nicht vom Fleck kommen. Von Santiago bis hier haben wir neun Stunden gebraucht, heute nochmal fünf. Bis Punta Arenas wären es dann weitere 18 Stunden und von da bis Ushuaia nochmal 12 Stunden, wenn alles gut geht. Die Busse da unten fahren aber nicht jeden Tag, teilweise nur zweimal wöchentlich. Uns wird ein wenig Angst vor unserem Projekt. Seitdem mir mein Handy geklaut wurde, ist irgendwie die Leichtigkeit des Reisens verloren gegangen. Der Ärger mit der neuen SIM-Karte hat uns viele Stunden gekostet, von den Nerven ganz zu schweigen. Nichtsdestoweniger: Der Ausblick aus dem Busfenster ist atemberaubend. Stundenlang ziehen Wälder, Felder, Weiden an uns vorbei. Die Landschaft ist recht flach, aber weit im Osten schweben die schneebedeckten Gipfel der Vulkane überm Horizont. Puyehue, Casablanca, Puntiagudo und Osorno sind überwiegend perfekt kegelförmig und zwischen zwei- und knapp dreitausend Meter hoch.
Der Osorno
Eine Kirche aus Wellblech!
Puerto Varas
Endlich geht’s aufwärts, sagt Andrea, als wir den steilen Berg zur Casa Rita hinauf ächzen. Es ist eine der schönsten Unterkünfte, die wir bisher auf unserer Reise hatten. Der fabelhafte Blick auf den See und die perfekten Vulkane dahinter entschädigt für den anstrengenden Aufstieg. Die meisten Gäste kommen wohl ohnehin mit dem Auto. Aber mit aufwärts meinte mein Schatz, dass wir heute mal wieder einen guten Tag ohne Zwischenfälle oder Probleme, geschweige denn Diebstähle hatten. Im Gegenteil, wir haben erfolgreich die Hindernisse der Onlinebuchung überwunden und einen Flug nach Punta Arenas, Patagonien gebucht. Und unser Gepäck haben wir auch schon eingebucht, das kostet hier natürlich extra, fast so viel wie die Tickets. Angesichts der gigantischen Dimensionen dieses Landes mussten wir einsehen, dass wir es per Bus nicht rechtzeitig bis Ushuaia, Feuerland schaffen werden. Am 1. März geht doch von dort unser Flug nach Buenos Aires, wo wir unsere Tochter treffen! Vorher wollen wir noch ein paar Berge, Gletscher, Seen usw. sehen. Es macht ja wenig Sinn, dauernd bloß im Bus beziehungsweise auf der Fähre zu hocken, zumal die Carretera Austral ja gar nicht ganz durchgeht, sondern immer wieder am Wasser der Fjorde und Lagunen endet. Also haben wir schon mal um 1300 Kilometer abgekürzt. Ferner haben wir schon ein Zimmer für die nächste Station, Puerto Montt gebucht. Es stellt sich nämlich heraus, dass man hier ohne Vorbuchung ziemlich schnell im Regen steht oder auf die teuersten und weit abgelegenen Unterkünfte ausweichen muss. Darüber hinaus haben wir eine kleine Kanutour gemacht und uns Räder ausgeliehen. Puerto Varas ist eine nette kleine Ferienstadt am Rand der Nationalparks um die Seen und Vulkane. Hier sind zwar jede Menge Touristen unterwegs, aber ausschließlich Chilenen. Es ist gelungen, die ausgetretensten Touripfade zu verlassen. Schließlich – und das hat uns am meisten gefreut, hatten wir ein Videotelefonat mit unseren lieben Freunden Elke und Frank daheim, die unsere Oma zum Kaffee da hatten. Jetzt geht’s aufwärts!
Petrohue
Im Lavasand
Ausflug zum Osorno und Lago de Todos Santos von Puerto Varas
Der älteste Nationalpark Chiles liegt zu Füßen des Vulkans Osorno. Der Lago Llanquihue, Chiles zweitgrößter See lässt das ganze noch spektakulärer wirken. Mit 860 Quadratkilometern ist er deutlich mehr als doppelt so groß wie unser Bodensee. Das Valle Central Chiles, das Zentraltal erstreckt sich von Santiago bis hier etwa 1030 Kilometer durch das langgestreckte Land. Bei Puerto Montt etwa 30 Kilometer weiter südlich endet es, für viele Chilenen übrigens endet hier auch Chile. Als man Mitte des 19. Jahrhunderts beschloss, die südlichen Weiten Chiles zu besiedeln, fand sich keiner der spanischstämmigen Chilenen des Nordens bereit, diese Gegend zu bewohnen. Also lud man deutsche Auswanderer ein, da Land zu bewohnen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kamen rund 40 000 Deutsche, die nicht nur Puerto Montt gründeten, sondern auch binnen dreier Monate einen Weg bis hier zum Llanquihue See aus dem Urwald herausschlugen, Puerto Varas gründeten und die fruchtbaren Täler rund um die Vulkane Osorno und Calbuco bewirtschafteten. Der Calbuco übrigens ist erst vor vier Jahren ausgebrochen, seither wurden hier alle Häuser neu gebaut, weil sie unter der Last der Asche zusammenbrachen. Nur ein paar der alten Holzhäuser der deutschen Siedler haben der Katastrophe widerstanden, wie unser Führer Iwan nicht ohne Bewunderung erzählt. Überhaupt liegen angeblich in Chile 2900 Vulkane, also die Hälfte aller Vulkane weltweit!
Villarica, Stadt und Vulkan
Der Osorno vom Lago de todos Santos aus
Wir genießen traumhafte Ausblicke auf den Osorno, dahinter lugt immer wieder der Puntigudo hervor. Die Berge rundum sind bereits Teil der Anden. Der Fluss Petrohue verlässt den knallblauen Lago de Todos Santos („Allerheiligensee“), um mit großem Getöse in einem spektakulären Wasserfall eine Lavabarriere zu durchbrechen, die der Osorno hier irgendwann einmal hingespuckt hat. 1869 ist er zuletzt ausgebrochen, aber immer noch aktiv. Unsere Tour führt uns bis zum Ende der Straße auf etwa 1240 Meter über dem Meer. Wir wandern noch rund 200 Höhenmeter weiter in der glühenden Sonne über den Lavasand und -kies. Der Ausblick reicht weit nach Westen über den ganzen Lago de Llanquihue, südlich bis zum Pazifik bei Puerto Montt, nach Osten bis zum riesigen Vulkan Tronador (3478 Meter). Nachdem ich zwar noch hölzerne Bauernhäuser mit Schildern „Kuchen“ sehe, aber keine Felder, frage ich nach. Ivan erklärt, dass die Farmer an den Hängen des Vulkans früher Milchwirtschaft betrieben, weiter unten im Tal wurden Kartoffeln, Tomaten anderes Gemüse, sowie Blumen angebaut. Doch heute geben die meisten Bauern ihre Farmen auf, weil sie unwirtschaftlich geworden sind. Viele stehen zum Verkauf, einige wurden in Ferienwohnungen umgewandelt.
Puerto Montt, Hospedaje Teresita
Beim Frühstück sind wir nicht mehr allein in der Casa Rita, wir essen zusammen mit einem jungen Paar aus Santiago. Der Mann ist ja ganz nett, aber seine Tussi eine arrogante dumme Gans. Von Rita dagegen verabschieden wir uns herzlich. Mit dem Bus gelangen wir in einer halben Stunde nach Puerto Montt, wo wir erstmal an einer Ausfallstraße in der gleißenden Sonne unsere Uber-App auf meinem Handy reaktivieren müssen. Durch den Wechsel des Gerätes ist da einiges durcheinander gekommen. Jedenfalls brausen wir kurz drauf mit unserem Fahrer durch die hügelige Stadt zur Hospedaje Teresita, einem Ersatzquartier. Unsere erste Wahl war überbucht und wir haben uns kurzfristig etwas anderes suchen müssen. Mal sehen, ob uns booking.com tatsächliche die Mehrkosten erstatten wird? Eigentlich ist es ja gar nicht unser Ding, aber es scheint praktisch unmöglich, zu reisen ohne vor zu buchen. JEDER tut es, wer es nicht tut, hat schlicht und einfach das Nachsehen und die teureren Zimmer. Ein sehr betagtes Ehepaar öffnet uns die wackelige Tür der windschiefen Herberge. Wir stolpern über eine niedrige Stufe, die ganz schief ins Haus hineinführt. Im Gang stapeln sich Heiligenbilder und -figuren. Noch schiefer ist der erste Stock, man läuft ständig bergauf oder bergab. Dafür ist auch hier offensichtlich für den himmlischen Segen gesorgt. Wir legen unser Gepäck ab und erkunden die Stadt. Hoffentlich gibt es heute kein neues Erdbeben.
Obwohl Puerto Montt durchaus eine der ältesten Gründungen der Region war, haben sich kaum historische Gebäude erhalten. Ein Erdbeben zerstörte fast alles im Jahre 1960. Nur ein paar kleine alte Bretterbuden stehen noch im Stadtkern, heute werden dort vor allem Kunsthandwerk und lokal typische Speisen verkauft. Die Gegend um den Busbahnhof soll man meiden, hier ist viel Gesindel unterwegs. Wir machen uns auf zum Fischmarkt Angelmo. Er liegt eingezwängt in zahllose Andenkenläden, die alle das gleiche Angebot haben: Holzschnitzereien, Wollartikel, Lederwaren und Modeschmuck. Im Fischmarkt gibt es Seehecht, Conger, Lachs, Austern und andere Muscheln sowie ein paar Krebse. Ganz nett, aber nicht wirklich beeindruckend. Am besten sind die kleinen Lokale rundum und oben drüber, wo man den frischesten Fisch zu sehr günstigen Preisen verspeisen kann. Inzwischen habe ich alle der hier üblichen Fischarten durchprobiert und habe meinen Favoriten gefunden: Der Lachs schmeckt mir am leckersten.
Dazu ist allerdings anzumerken, dass die chilenische Küche wirklich nicht die beste ist. Die Fische hier sehen wirklich erstklassig aus, aber das Ergebnis auf dem Tisch ist untere Mittelklasse. Sind wir inzwischen derart verwöhnt? Nein, das ist schlichtweg mies im Vergleich zu dem Fisch, den ich in Valparaiso beim Peruaner hatte. Auf Peru freue ich mich, denn die Peruaner können wirklich gut kochen. Die Chilenen würzen so gut wie gar nicht, kennen nur (sehr wenig) Salz und Zitrone. Sonstige Sehenswürdigkeiten (außer Essen und Trinken) bietet Puerto Montt keine.
Nun sind wir nach drei Tagen Valparaiso auf dem Weg zurück nach Santiago, denn von dort gibt es viel mehr Möglichkeiten, weiter in den Süden zu fahren. Schließlich sind wir ganz klassisch per Ubertaxi zum Busbahnhof gefahren und haben uns dort ein Ticket am Schalter gekauft. Wir wollen es unbedingt vermeiden, mitten in der Nacht oder allzu früh morgens irgendwo anzukommen, wo wir dann mit dem kompletten Gepäck erst stundenlang warten müssen, bis wir eine Unterkunft finden oder es sonstwie weitergeht. Der bequeme Bus des Unternehmens Condor tröstet nicht ganz darüber hinweg, dass wir nicht unsere gewünschte Verbindung nach Pucon bekommen haben. Die Sitze sind weich gepolstert, die Beinfreiheit geradezu luxuriös. Ein großes Display zeigt an, wie schnell der Bus unterwegs ist und Schilder weisen die Fahrgäste darauf hin, dass sie sich beschweren sollen, wenn der Fahrer zu schnell fährt. Tatsächlich ertönt eine Hupe, wenn er mal versehentlich über hundert fährt. Gebirge und Hügellandschaften ziehen an den Fenstern vorbei. Der Mischwald besteht aus Laub- und Nadelbäumen sowie Palmen, es gibt kaum Unterholz und alles scheint staubtrocken zu sein. Die Straße ist eine perfekt ausgebaute vierspurige kreuzungsfreie Autobahn. Eine der besten Straßen seit Malaysia und Singapur. In Neuseeland gab es nur um Auckland herum ein paar größere Straßen, ansonsten waren alle State Highways einfache Landstraßen, Brücken häufig einspurig.
Was soll ich sagen, wir verbringen einen weiteren Tag in Santiago, denn unser Bus nach Süden fährt erst um 21 Uhr. Bis dahin besichtigen wir noch ein Kunstmuseum und einen Park. Wiederum sehen wir einige Menschen, die hier im Zelt oder auf Matratzen ihr Lager bezogen haben. Wer nämlich in diesem Land den Job verliert ist schnell auch die Wohnung los und dann bleibt oft nur das Zelt, das eigentlich für den nächsten Urlaub gedacht war. Bei einem Mindestlohn von rund 420 Euro – die einfachen Leute verdienen kaum mehr als das – kann man auch schlecht irgendwelche Reserven bilden. Vielen bleibt nichts anderes übrig, sie tragen entbehrliche Wertgegenstände oder einfachen Hausrat zum Flohmarkt, um es zu Geld zu machen. Wir sehen junge Leute, die in der Rotphase vor der Autoschlange an einer Ampel mitten auf der Straße artistische Kunststücke vorführen. Anschließend sammeln sie Kleingeld ein. Andere kommen auf krumme Ideen. So hat mir heute irgendjemand in der Metro das Mobiltelefon aus der Tasche gezogen. Sehr ärgerlich für mich, das grenzt ja heutzutage fast an Amputation. Ich wünsche dem Dieb jedenfalls viel Spaß mit dem alten Gerät. Es war nicht mehr viel wert, der Akku hielt mit Ach und Krach noch einen halben Tag und ständig stürzten Apps ab. Ich habe das Handy jedenfalls sofort über Google gesperrt und meine Daten gelöscht.
Trotzdem hat mir die Sache mindestens eine Nacht und die nächsten Tage total versaut. Der Nachtbus nach Villarica war so schon eine Foltertour. Luxuriöse Sitze, aber mit eingesessenen Mulden für Menschen, die mindestens einen, wenn nicht zwei Köpfe kürzer sind als ich. Mit eingeklemmten Brust- und Lendenwirbeln träume ich vom Taschendieb. Es kommt aber noch schlimmer: Kurz vor halb sechs Uhr kommen wir an, es herrscht noch komplette Dunkelheit, eine gottverlassene Straße und ein paar müde Straßenhunde begrüßen uns bei etwa 6 Grad. Zumindest lange Hosen haben wir an.
Doch Villarica entpuppt sich bei Licht doch als ein schöner Fleck.
Fast von überall in der Stadt kann man den riesigen Vulkan sehen, der auch noch
ganz idyllisch hinter einem riesigen See liegt. Es ist zwar eine Feriengegend,
aber hier sind ausschließlich chilenische Touristen unterwegs. Erstaunlicherweise
fallen wir trotzdem kaum auf, im Gegenteil, manchmal werden wir angeredet, als
ob man uns für Chilenen halten würde. Das chilenische Volk ist ein derartiges
Gemisch aus vielen Völkern, da gibt es spanische, englische, kroatische, deutsche
und viele andere Wurzeln. In die chilenische Sprache haben aus dem Deutschen einzig
die Wörter „Yah“(=Ja) und „Kuchen“ Eingang gefunden, dafür ist Kuchen aber bis
heute SEHR wichtig in Chile. Überall gibt es Kuchen, bestimmt essen die Leute
mehr Kuchen als Brot. Die nette kleine Stadt erwandern wir zu Fuß, die angebotenen
Ausflüge zu diversen Wasserfällen oder Thermalquellen sparen wir uns aber. Wir
verbringen eineinhalb Tage damit, ein neues Handy für mich zu kaufen sowie eine
neue SIM-Karte zu aktivieren. Alles nicht so einfach hier!
Die Hafenstadt Valparaiso am Meer gefällt uns sehr, auch wenn sie ihres Namens spottet. Erstens ist da kein Tal, zweitens gar nichts paradiesisch. Die Stadt ist extrem lebendig, jung und ein wenig kriminell. Kneipen, Kunst und Leben überall. Angeblich auch gefährlich. Als uns der Uber-Taxifahrer am Hostel in der Avenda Templeman absetzt, warnt er uns: Dies sei derzeit eine der gefährlichsten Straßen der Stadt, erst letzte Woche ist ein kanadischer Tourist ermordet worden. Wir sind ein wenig verunsichert und legen alle Wertgegenstände ab, nehmen nur ein Handy und ein wenig Bargeld mit. Auf den Straßen rundum ist alles voller Streetart, nachmittags sind viele Menschen unterwegs. Wir fühlen uns eigentlich ganz wohl und zweifeln ein wenig, was wir glauben sollen. Letztlich überwiegt die Vorsicht und wir sehen zu, dass wir vor der Dämmerung zurück in die Unterkunft kommen. Von unserer winzigen Dachterrasse aus genießen wir noch die Aussicht auf die Bucht, den Hafen, die Stadt. Auf dem Dach des Nachbarhauses steht eine rostige Isetta. Wie das bayrische Kleinstauto wohl hierher gekommen sein mag?
Unser Hostel La Acuarela ist ein wenig Kommune, ein wenig Villa Kunterbunt. Das ganze Haus wirkt wie aus Abbruchmaterial zusammengezimmert: Küche und Gemeinschaftsbereich sind ein entkernter Fachwerkbau, die gußeiserne Wendeltreppe ist so eng, dass ich kaum mit meinem Rucksack durchpasse. Einige Fenster sind mit farbigen Scheiben verglast wie in einer Kirche; jeder Türstock anders bunt gestrichen. Zwei der drei Duschen bleiben trotz besten Zuredens kalt, die Seife in den Spendern besteht zu 99 Prozent aus Wasser und die Handtücher sind kratzig und hart vom Kalk. Genau so wie ich es mag! Jeder Gegenstand hier atmet seine eigene Geschichte, alles ist alt und ein wenig schief, aber liebevoll angebracht und dekoriert. Jeden Tag kommen abends andere junge Leute, vor allem Frauen, kochen und essen zusammen. Manche übernachten auch hier, manche duschen und essen bloß, wohl weil sie keine andere Möglichkeit haben. Zahlende Gäste gibt es nur wenige. Der einzige Fixpunkt ist ein junger Mann aus Argentinien. Er ist der Nachtwächter und schläft im ersten Schlafsaal im Erdgeschoß. Wir wohnen mitten im Unesco-Weltkulturerbe. Überall rundum ist Kunst – aber nicht wie die Kunst aus einem Museum, sondern lebendige, brandaktuelle Kunst mit Botschaften von hier und heute.
Mit Juan José unternehmen wir eine Sightseeingtour zu Fuß durch die Stadt. Er zeigt uns die besten, sehenswertesten und neuesten murales (Streetart – Wandbilder) und führt uns durch das verwirrende Gewirr der Gassen und die angesagtesten Viertel – unser Hostel liegt zufällig mittendrin. Fast alle Wandbilder haben eine mehr oder weniger versteckte politische Botschaft, die meisten protestieren gegen die staatliche Repression, viele prangern die Unterdrückung der indigenen Bevölkerung oder den Raubbau an der Natur an. Auf einigen der gemalten Gesichter ist jeweils eins der Augen übermalt, teils in brutalem rot oder schwarz. Dies ist eine Art stiller Protest der Künstlergemeinde. Einige Demonstranten haben nämlich bei den Protesten im Tränengasnebel und Gummigeschoßhagel ein Auge verloren. Bei den Unruhen ging es um mehr als eine Fahrpreiserhöhung. Juan erzählt uns über die soziale Ungleichheit in Chile. Bessere Bildungschancen, angemessene Gesundheitsvorsorge und ausreichende Altersvorsorge sind in extremer Weise der reichen Oberschicht vorbehalten. Einfache Rentner haben kaum ein Auskommen, auf einen simplen Bluttest muss man Monate warten, wenn man keine private Krankenversicherung hat.
Meinen Geburtstag verbringen wir mit Herumwandern in der atemberaubenden
Atmosphäre dieser Stadt. Zum einen wegen der Kunst, zum anderen wegen des
Reizgases. Am Geruch erkennt man sofort die Viertel, wo die Demonstrationen
stattfinden. Ich frage mich, wie es sein kann, dass es noch am nächsten Nachmittag
derart ekelhaft stinkt; wahrscheinlich sind die Mauern schon imprägniert. Jede
Nacht wird von der Polizei großzügig ein neuer Aufguss nachgelegt. Uns laufen
die Nasen, der Hals kratzt und die Augen tränen. Oben auf dem Hügel bei der Casa Sebastiana merkt man nichts
davon. Hier lebte Pablo Neruda, der beliebte chilenische Poet, Nobelpreisträger
und Freund Salvador Allendes. Seine Verehrer haben das Haus in ein sehenswertes
Museum voller netter Details verwandelt.
Wirklich ärgern müssen wir uns aber, weil das Kaufen eines
Bustickets für die nächste Etappe einfach nicht gelingen will. Irgendwie gibt
es ein Problem mit der Seite des Busunternehmens, immer wieder hängt die ganze
Sache, dann geht es doch weiter: Endlose Formulare müssen ausgefüllt werden.
Warum will das Reiseunternehmen eigentlich wissen, ob wir verheiratet sind? Als
ich dann zum Bezahlen komme, stockt der Prozess unerbittlich. Drei- oder
viermal mache ich die ganze Tortur mit, dann gebe ich es auf. Wie damals in Indonesien
habe ich nun einen ganzen Bus mit meinen digitalen Geisterklonen besetzt. Aber
keins der Tickets kann ich bezahlen, geschweige denn wirklich bekommen.
Heute sind wir beinahe ein wenig zwischen die Fronten
geraten. Ein ausgedehnter Spaziergang führte uns nach Bellavista: ein Künstlerviertel,
welches auch für seine Cafés, Bars und Theater berühmt ist. Wir sehen nicht nur
hervorragende Streetart, sondern auch das Haus, in dem einst Pablo Neruda
lebte. Auf dem Weg begegnen uns im Parque Forestal viele Obdachlose und Bettler.
Die Verlierer dieser Gesellschaft leben in Pappverschlägen, Zelten und
Sperrmüll unter freiem Himmel. Kurz drauf wundern wir uns über viele
Pflastersteine und Betonbrocken, die lose auf der Straße liegen. Hat hier ein
Lastwagen einen Teil seiner Ladung verloren? Komischerweise hat das Pflaster
auf dem Gehsteig viele Lücken.
Ein paar Straßen weiter lesen wir die Parolen und Graffitis an einem verbarrikadierten Gebäude – gerade sind Arbeiter dabei, eine Mauer vor die Glasfront im Erdgeschoss zu betonieren, große Rollen Stacheldraht schützen einen Balkon. Ich spreche einen jungen Mann an und erfahre, dass es sich um Gebäude einer privaten Universität handelt, die im Verlauf der Unruhen stark beschädigt wurden. Hier sei das Zentrum der Unruhen, so erklärt uns Carlos, hier versammeln sich allabendlich die Protestierenden. Wir sprechen fast eine Stunde lang mit ihm. Der Exilvenezolaner wohnt um die Ecke, das Tränengas kann man noch im ganzen Viertel riechen. Bei der Straßenschlacht gab es einen Toten – der Mann ist von einem gepanzerten Polizeiauto überrollt worden.
Wir stehen an einer sechsspurigen Straße, die wir überqueren wollen. Die Ampel ist ausgefallen. Zum Glück sind hier ein paar Jugendliche, die den Verkehr regeln: Sie tragen Warnwesten und pfeifen mit ihren Trillerpfeifen. Sie haben sich einen gefährlichen Job gesucht – nicht alle Autofahrer bremsen. Als wir später an die selbe Stelle zurückkommen, haben sie mitten auf der Kreuzung ein Lagerfeuer entzündet. Alkoholisiert oder unter Drogeneinfluss halten sie jetzt die Autos an, indem sie eine Reihe von Feuerlöschern auf die Straße stellen. Mit Schals oder T-Shirts ums Gesicht gewickelt fordern sie Geld von den Autofahrern – einige drehen schnell um, andere werden gestoppt, zahlungsunwillige werden mit dem Löschpulver eingestäubt. Wir sehen zu, dass wir wegkommen. Verständlicherweise bin ich nicht zum Fotografieren gekommen. Keine Minute später: Sirenengeheul, vergitterte Polizeiautos brausen heran. Paco muerte bedeutet so viel wie „Tod den Bullen“.
30.01.2020, über dem Pazifik südlich der Osterinsel
So einen Flug habe ich noch nicht erlebt. Abgeflogen sind wir um 6.00 Uhr morgens in Auckland, auf unserem Zwischenstopp in Sydney landeten wir etwa zwei Stunden später, aber in Sydney war es wiederum erst 6.00 Uhr und es wurde gerade Tag. Um 10.00 Sydneyzeit sind wir gestartet Richtung Osten, nach Santiago. Dabei sind wir quasi mit der Dämmerung mitgeflogen, draußen war stundenlang Zwielicht, dann Nacht. Jetzt ist es stockfinster, für mein Gefühl Abend, Ortszeit schätzungsweise Mitternacht. Aber jetzt kommts: Nachdem wir auf dem Flug einen Zeitunterschied von zehn Stunden und gleichzeitig die Datumsgrenze überschreiten, werden wir in Santiago etwa drei Stunden nach unserem Abflug in Auckland ankommen. Und das, obwohl wir den gesamten Pazifik überquert plus die Distanz Neuseeland – Australien überwunden haben. Der Service an Bord ist auch nachtschwarz. Nachdem es in den bisher neun Stunden Flug nur eine Semmel und ein Muffin gegeben hat, von Kaffee ganz zu schweigen, haben ein paar Passagiere die Küche gestürmt. Wir konnten uns eben noch die Reste einer Weinflasche sichern, bevor die Stewardessen den Raum wieder zurück erobert haben. Zu essen oder trinken gibt es nach wie vor nur im Selbstbedienungsmodus. Soll uns das auf Chile einstimmen?
Schließlich gab es doch noch etwas, kurz nach Sonnenaufgang erhielten
wir wahlweise Schlabbergnocchi (die ich selbst beim Lieblingsitaliener hasse)
oder Lamm mit Süßkartoffeln (mit allen verfügbaren Gewürzen bestreut durchaus
essbar). Halb in Trance erleben wir die ruppige Landung und die lässigen
Einreiseformalitäten. Natürlich nehmen wir trotz bleischwerer Müdigkeit kein
Taxi, sondern den Klapperbus, wie die Einheimischen. Es stellt sich heraus,
dass wir umsteigen müssen: Abenteuer Metro für zwei schlaflose Zombies! Aber
alles halb so schlimm, es ist hier nicht viel anders als in allen anderen
Städten, Weg checken, Chipkarte erwerben/aufladen, ab durchs Drehkreuz und rein
ins Getümmel. Nette Leute weisen uns den Weg und manche sprechen derart langsam
und deutlich, dass sogar ich es verstehen kann, obwohl meine Spanischkenntnisse
extrem rudimentär sind. Genauer gesagt sind diese nicht vorhanden, nur habe ich
damals im Urschleim noch zusammen mit den anderen Dinosauriern meiner
Generation Latein gelernt. Es geht nichts über eine humanistische Grundbildung!
Über Chile: Wen es nicht interessiert, möge die die folgenden Absätze überspringen, ich habe sie nur für alle anderen aus Wikipedia und unserem Reiseführer zusammengeschnippelt.
Chile, „das langgestreckte Land“ hat eine
Nord-Süd-Ausdehnung von rund 4275 Kilometern. In west-östlicher Richtung ist das
Land nur durchschnittlich etwa 180 Kilometer breit. Die Längenausdehnung Chiles
entspricht auf Europa und Afrika übertragen in etwa der Entfernung zwischen
Dänemarks und der Sahara. Das Wort chilli bedeutet in der Sprache der Aymara „Land,
wo die Welt zu Ende ist“.
Der moderne souveräne Staat Chile gehört zu den wirtschaftlich und sozial stabilsten und wohlhabendsten Ländern Südamerikas mit einer einkommensstarken Wirtschaft und einem hohen Lebensstandard. Es führt die lateinamerikanischen Nationen in Bezug auf menschliche Entwicklung, Wettbewerbsfähigkeit, Pro-Kopf-Einkommen, Globalisierung, Friedenszustand, wirtschaftliche Freiheit und geringes Korruptionsempfinden an. Nach Einschätzung der Weltbank ist Chile ein Schwellenland mit einem Nettonationaleinkommen im oberen Mittelfeld. Das Land ist relativ sicher, es weist nach Kanada die niedrigste Mordrate in Amerika auf.
Chile ist durch die globale Erwärmung ernsthaft gefährdet und hat seit Anfang der 90er Jahre mindestens 37 % seiner Wasserressourcen verloren. Chiles Geografie ist stark durch Gebirge und Vulkane geprägt: Im Osten die über 6000 Meter hohen Anden, im Westen die Küstenkordilliere, dazwischen das fruchtbare Valle Central. Der höchste Berg Chiles, der Ojos del Salado (6893 m), ist zugleich der höchste Vulkan der Welt. Im Norden des Landes („großer Norden“, Norte Grande) liegt die Atacamawüste, eine der trockensten Wüsten der Erde. Die Mitte des Landes um die Hauptstadt Santiago herum ist sehr fruchtbar und daher ein Zentrum der Landwirtschaft sowie auch der Industrie. Am dichtesten besiedelt ist der Großraum Región Metropolitana de Santiago, wo etwa die Hälfte der chilenischen Einwohner lebt. Die Stadt selbst hat etwa 5,5 Millionen Einwohner; sie beherbergt also in etwa ein Drittel aller Einwohner Chiles. Das sehr dünn besiedelte Südchile (genannt „großer Süden, Sur Grande“) ist eine äußerst niederschlagsreiche Region. Die Küste ist durch eine Vielzahl vorgelagerter Inseln stark zerklüftet. Südlich des Festlands befindet sich die Insel Feuerland, die sich Chile mit dem Nachbarland Argentinien teilt. Auf der Feuerland vorgelagerten Insel Isla Hornos befindet sich Kap Hoorn, der südlichste Punkt Chiles und Südamerikas.
Während der Kolonialzeit wurde Chile durch spanische Einwanderer besiedelt. Im 19. Jahrhundert wanderten besonders viele englische und irische sowie deutsche Siedler ein. Nennenswerte Zahlen von Einwanderern kamen außerdem aus Frankreich, Italien, Kroatien und in jüngerer Zeit aus Palästina bzw. dem Nahen Osten. Die ersten Deutschen trafen 1843 ein und siedelten sich später vor allem im Gebiet um den Llanquihue-See und in Valdivia, Osorno sowie Puerto Montt an. Noch heute wird die deutsche Sprache von bis zu 35.000 Einwohnern verwendet, deren Zahl allerdings stetig abnimmt. Menschenrechtsorganisationen bemängeln bis heute den schlechten Umgang mit den wenigen verbliebenen Ureinwohnern, vor allem den Mapuche, insbesondere in Bezug auf Landstreitigkeiten.
Allende und Pinochet
Im Jahre 1970 gewann Salvador Allende die Präsidentschaftswahlen für das linke Wahlbündnis Unidad Popular. Er verstaatlichte in der Folge die wichtigsten Wirtschaftszweige (Bankwesen, Landwirtschaft, Kupferminen, Industrie, Kommunikation) und geriet dadurch in wachsende Konflikte mit der Opposition – obwohl die Verstaatlichungen von der Verfassung gedeckt waren. Zudem stieß der Wahlsieg Allendes in den USA auf heftigen Widerstand. Obwohl Allende weder Marxist noch Anhänger eines Einparteienstaates war, verhängten die USA Sanktionen; der CIA unterstützte Attentate und Putschversuche. 1973 kam es schließlich zu einem erfolgreichen blutigen Militärputsch gegen die Regierung. Präsident Allende beging Selbstmord. Hunderte seiner Anhänger kamen in diesen Tagen ums Leben, Tausende wurden inhaftiert. Sämtliche staatlichen Institutionen in ganz Chile wurden binnen Stunden vom Militär besetzt. Die Macht übernahm als Präsident einer Junta General Augusto Pinochet. Überall im Lande errichtete das Militär in der Folgezeit Geheimgefängnisse, wo Oppositionelle und deren Sympathisanten nicht selten zu Tode gefoltert wurden. Tausende Chilenen gingen wegen der fortgesetzten Menschenrechtsverletzungen ins Exil.
Kurz nach der Machtübernahme Pinochets begannen die USA und
die westeuropäischen Staaten, Chile wieder intensiv mit Wirtschaftshilfe zu
unterstützen. Die Militärregierung machte die Verstaatlichungen Allendes mit
Ausnahme der Kupferminen rückgängig, führte radikale Wirtschaftsreformen durch
und schaffte die Gewerkschaftsrechte ab.
In Deutschland erhielt die Regierung Pinochets lange Zeit
Unterstützung aus den Reihen der Union, vor allem der CSU. So lobte Franz Josef
Strauß 1977 bei seinem Besuch den Umsturz als „gewaltigen Schlag gegen den
internationalen Kommunismus“. Es sei „Unsinn, davon zu reden, daß in Chile
gemordet und gefoltert würde“. Später änderte sich die Sichtweise, in den
achtziger Jahren wurde auch in der CDU die Kritik an den
Menschenrechtsverletzungen des Regimes deutlicher. In diese Zeit fällt auch der
Chilebesuch von Norbert Blüm, bei dem dieser Pinochet im direkten Gespräch
damit konfrontierte.
Insbesondere in der Colonia Dignidad, einer streng bewachten
Siedlung von Auslandsdeutschen unter Führung von Paul Schäfer, wurde gefoltert.
Die Sekte war etwa zehn Jahre vor der Machtübernahme Pinochets gegründet worden
und diente während der Militärherrschaft als Folterzentrum für die chilenischen
Geheimdienste. Darüber entwickelte sich die Colonia zu einem florierenden
Konzern, der unter anderem Titan nach Deutschland exportierte. Trotz Hinweisen,
gerichtlichen Anklagen und Fluchtversuchen deutscher Bürger übte die deutsche
Botschaft in Chile „äußerste Zurückhaltung“ und blieb untätig, mehr noch, sie
ließ Handwerker der Siedlung die Botschafterresidenz renovieren.
1988 wurde eine Volksabstimmung abgehalten, bei der sich
eine Mehrheit (55 %) gegen eine weitere Amtszeit Pinochets aussprach. 1989
fanden die ersten freien Wahlen nach 15-jähriger Diktatur statt, seither hatten
mehrere sozialistische, aber auch rechtskonservative Präsidenten die Macht
inne. Die außenpolitischen Beziehungen zu den USA, der Europäischen Union und
vor allem auch zu Deutschland sind nach wie vor traditionell gut. Komittees zur
Wahrheitsfindung sind bis heute damit beschäftigt, die Verbrechen der
Militärdiktatur aufzuklären, Pinochet selbst ist 2006 verstorben, ohne je verurteilt
worden zu sein.
Vor wenigen Wochen erschütterten schwere landesweite Unruhen den scheinbar friedlichen Staat: Die Menschen protestierten gegen die ungerechte Verteilung des Reichtums, Anlass war eine Fahrpreiserhöhung im öffentlichen Nahverkehr. Wegen der anhaltenden Proteste sagte die Regierung die UN-Klimakonferenz ab, die geplant im Dezember 2019 in Santiago de Chile abgehalten werden sollte.
Angekommen in Santiago
Unser Hostel erweist sich als Glücksgriff, ein schönes Haus von 1900 voller netter Leute. Und ein zurückgelassener Chile-Reiseführer in Buchform wartet auch schon im Tauschregal auf uns! Am liebsten würden wir unseren stattdessen reinstellen, geht aber nicht. Ist ja ein Download auf dem Ereader. Nie wieder würde ich einen Reiseführer fürs Ebook kaufen, völlig unbrauchbar. Wir duschen und schlafen ein paar Stunden unseres Jetlags weg. Danach fühlen wir uns fit genug für einen Spaziergang in die City und haben unsere erste Begegnung mit der chilenischen Küche. Die Stadt fühlt sich freundlich, lebhaft und recht schwungvoll an, wenn auch viele verlassene und verfallene Gebäude mitten in der Innenstadt derzeit nur den einen Daseinszweck als Streetart-Träger haben. Ein paar mit Brettern vernagelte Schaufenster und mehrere gepanzerte, vergitterte schwarze Polizeibusse, verbeult und von Farbbomben verkleckst sind am Straßenrand zu sehen. Ein Supermarkt im Zentrum ist mit Stahlplatten verbarrikadiert, es bleibt nur eine schwere Eisentür zu den Verlockungen des Konsums.
Offenbar sind dies Überbleibsel der Unruhen vor zwei Monaten. Jedenfalls scheint uns die Stadt lässig – liberal. Wir sehen in einer Stunde mindestens vier Paradiesvögel: Bunte Schwule und Diverse. Ein Transgender berät uns bezüglich unserer SIMkarten für die Handys.
01.02.2020 Santiago de Chile
Und die beschäftigen uns dann auch fast den ganzen Tag lang immer wieder. Gut, dass wir inzwischen einigermaßen relaxed sind und nichts auf Teufel-komm-raus erzwingen. So genießen wir die angenehme Atmosphäre der Stadt, schlendern über die geschäftigen Straßen voller Händler und Geschäfte, sitzen gemütlich in den einladenden Straßenlokalen, von wo man dem Trubel sehr gelassen zusehen kann. Es gibt hier übrigens hervorragenden Wein zu sehr verführerischen Preisen. Mit dem Problem „online-Status-herstellen“ beschäftigen wir uns zwischen unseren Besuchen im Stadtzentrum, beim Zentralmarkt und beim Museo de la Solidaridad Salvador Allende. Am Plaza de Armas schauen wir den alten Herren beim Schachspiel und den jungen Frauen beim Balzen zu. Letztere tragen ihre weiblichen Rundungen sehr freizügig zur Schau, überwiegend sehr gut bestückt, aber knapp bedeckt. Hautenge kurze Hosen oder Minis zu knappsten Oberteilen – und das obwohl die heiligste Kathedrale de la Serena in Steinwurfweite liegt. Doch damit nicht genug: Selbst im Inneren der Kathedrale sieht man die Entblößten, wie sie sich Weihwasser auf die Stirne tupfen! Hier hat der Katholizismus seine stärksten Bastionen und blüht gleichzeitig hoffnungserweckend. Santa virgen Maria, redimirnos!
Ein langes Wochenende steht an! Montag ist Feiertag und jeder hat frei. Entsprechend geht es auf den Straßen, an den Stränden, eigentlich überall rund. Wir wollen die Waipu Höhle besichtigen und nehmen dafür sogar eine 19 Kilometer lange Schotterstraße durch die Berge auf uns. Der Parkplatz an der Höhle ist dann genauso enttäuschend wie die Toilette – alles voll. Die Höhle macht auch keinen Spaß, denn auch sie ist voll. Wir treten den Rückzug an und versuchen unser Glück an den verschiedenen Stränden in der Nähe. Aber es ist überall das gleiche: Menschen, Autos, Boote… kein Platz. Letztlich fliehen wir in die Berge und stellen uns auf einen kleinen Eco Retreat mitten im Nirgendwo. Hier weht wenigstens ein leichter Wind. Barry und seine Frau haben sich für den Ruhestand ein großes Stück Land nahe am Bald Rock gekauft uns verwandeln das ehemalige Farmgelände Stück für Stück in eine Mischung aus Farmstay und Campingplatz. Sie vermieten auch kleine Wohnwürfel und Bauwagen, Dusche und Strom sind solarbetrieben. Wir genießen noch einmal die Ruhe und campen weitab von allen anderen ganz allein im Wald auf einem Berg: Die Sonne geht hier nur für uns unter und die Sterne leuchten exklusiv!
Der Zufall schickt uns durch dichten Rückreiseverkehr zur
Stillwater Reserve, einem in die Jahre gekommenen großen Campground neben einer
kleinen Flussmündung an der Hibiscus Coast. Im Brackwasser des Flusses kann man
baden, doch wir sind die einzigen, die es wirklich tun. Wir sollen aufpassen,
dass wir auf keine Stachelrochen treten, rät uns ein älterer Herr. Überhaupt
ist dieser Platz voller Kiwi-Dauerbewohner, außer uns gibt es keine ausländischen
Tagesgäste. Der volltätowierte Nachbar grüßt nicht nur sehr freundlich, er
bewohnt ein Mega-Wohnmobil. Der alte Linienbus ist sicher 15 Meter lang und
verfügt über Holzofen, ein Riesenvorzelt und einen Werkzeugschuppen. Ich
spreche ihn darauf an: Er sei ja scheinbar ziemlich gut ausgerüstet, ob er
nicht vielleicht eine Ratsche mit 14er Nuss und Verlängerung für mich hätte? Ja
klar, er ist gern behilflich. Eine halbe Stunde später habe ich den
Beifahrersitz aus- und wieder eingebaut. Andreas verschwundener Ohrring ist
wieder da!
Wie bringt man den Inhalt eines Wohnmobils in zwei Rucksäcke? Als die Sonne schwächer und es halbwegs erträglich wird, beginnen wir den Bus komplett auszuräumen. Sogar die verloren geglaubte Stirnlampe taucht wieder auf! Zwei Monate haben wir nun in unserem Toyota Hiace gewohnt, aber in jeder einzelnen Ritze und in jedem hinterletzten Winkel ist irgendein wichtiges Teil für eine Weile abgetaucht. Wir waschen ein letztes Mal in Neuseeland eine Maschine Wäsche und verabschieden uns von dem ein oder anderen Kleidungsstück, das allzu löchrig oder fleckig geworden ist.
Am nächsten Morgen treten wir die letzte Etappe nach Auckland an. Durch das vorangegangene lange Wochenende sind nach wie vor alle Straßen verstopft. Sobald wir den State Highway 1 erreichen, geht so gut wie gar nichts mehr. Für die gut 30 Kilometer brauchen wir fast zwei Stunden. Die Jucy-Zentrale Auckland liegt am internationalen Airport. Mit ein wenig Wehgefühl geben wir das Auto ab: 7148 Kilometer hat das treue Gefährt uns durch Neuseeland getragen. Unser indischer Transfer-Taxler bringt uns sofort wieder in eine andere Dimension des Reisens! Die letzten Monate hatten wir ja stets unser eigenes Schneckenhaus dabei, das ist jetzt vorbei. Der hyperaktive Inder versichert uns auf den zehn Minuten Fahrt bestimmt 20 Mal, dass wir bei ihm in den besten Händen seien und er uns direkt an der Haltestelle für den Citybus absetzen würde. Den Rest kann man nicht verstehen, denn sein Englisch ist ziemlich schlecht.
Wir entscheiden uns für ein Returnticket, denn übermorgen
müssen wir ganz zeitig wieder am Flughafen sein. Günstiger als mit dem Skybus
kommt man nicht zum Flughafen. S-Bahn oder sonstige öffentliche Verkehrsmittel außer
ein paar Bussen gibt es nicht. Entsprechend chaotisch sind die Straßenverhältnisse.
In Auckland wohnen etwa 1,5 Millionen Menschen, in ganz Neuseeland vier! Die
Stadt wächst überproportional und die Infratruktur kommt nicht mit. 40% der
Einwohner sind keine gebürtigen Kiwis, sondern Einwanderer, vor allem aus
Asien. In der City angekommen stellen wir das Gepäck im Jucy-Hostel ab und
machen uns zu Fuß auf eine kleine Erkundungstour durch den Hafen. Die Luxusyachten
im Hafen sind teilweise drei- bis fünfmal so groß wie die Wohnmobile und
Tinyhäuser, die wir so auf den Campgrounds hier gesehen haben. Meist wohnten da
Rentner drin, die ihr festes Haus aus Kostengründen aufgegeben hatten und ganz
ins Mobilheim gezogen sind. Was wohl so ein Liegeplatz in der ersten Reihe
kostet?
Die Strände hier sind gigantisch: Schön und riesenhaft. Locker 200 Meter zwischen Dünen und Brandungszone. Die Wellen sind so mächtig, wir trauen uns nur dort ins Wasser, wo ein Rettungsschwimmer Wache hält. Meist ist es ein kleiner Bereich, den die gelb-rot gekleideten Lebensretter mit Fahnen markiert haben. Sie haben einen kleinen Beachbuggy, ein Motorboot und ein paar Bojen und Leinen dabei.
Mit der Brandung und vor allem mit der Strömung ist nicht zu spaßen! Ein paar Mal reißt es mich derart gewaltig von den Füßen, dass ich momentan nicht mehr weiß, wo oben und wo unten ist. Zum Glück habe ich dabei keinen Schürfkontakt zum Sandboden – das kann blutig ausgehen. Heute verbringen wir die Nacht in Tutukaka, benahe so schön wie im Takatukaland. Morgen wollen wir auf den Poor Knights tauchen gehen!
Die zwei Tauchgänge sind kein billiger Spaß, 319NZ$ pro Nase. Dafür sehen wir einen der besten Tauchplätze weltweit! Schon auf der 45minütigen Überfahrt sehen wir eine Gruppe riesiger Tümmler: Ein Anblick, der verzaubert. James Cook kam hier 1769 vorbei und entdeckte die Poor Knight Inseln, kartografierte und benannte sie. Angeblich erinnerte ihn die Silhouette an einen gefallenen Krieger auf dem Schlachtfeld, bedeckt von seinem Schild – zu arm für ein Begräbnis.
Ursprünglich war hier ein riesiger Vulkan mit 24 Kilometer Durchmesser, doch das ist schon 150 Millionen Jahre her. Die Fauna ist fantastisch. Schon vom Boot aus sehen wir riesige Schwärme blauer Maomaos im glasklaren Wasser. Unter Wasser begegnen uns nicht nur nicht enden wollende Schwärme von Demoiselles, neugierige Zackenbarsche, gähnende Muränen, schlafende Papageifische, wunderhübsche Nacktschnecken und vieles mehr. Das Tauchen im Kelp ist eine ganz andere Sache als alles, was wir bisher erlebt haben. Die riesigen Wasserpflanzen sind mit stabilen tentakelartigen Greifwurzeln auf den Felsen verankert. Die Stängel sind derb und extrem stabil – das müssen sie auch sein, um Brandung und Stürmen zu trotzen. Wenn unter dir beim Tauchen ganze Felder von Blättern in der Dünung schwanken, kann es dir leicht übel werden. Trotzdem ist es ein wunderbarer Anblick. Unser Skipper erzählt uns in der Oberflächenpause zwischen den beiden Tauchgängen von dem Stamm, der einst hier lebte. Da einst Cook auf den Inseln Schweine aussetzte, gab es hier jagbares Wild, während auf dem Festland seit der Ausrottung der Moas die einzigen größeren Tiere Ratten und Fledermäuse waren. Der Stammeshäuptling der ansässigen Maori war recht geschäftstüchtig und verkaufte das Schweinefleisch gewinnbringend an die Stämme am Festland. Eines Tages beschloss einer der Häuptlinge an der Westküste, dass diese Schweine eine große Bereicherung für seine Speisekarte wäre und er gern selber welche haben wollte. Also durchwanderte er mit seinen Leuten das ganze Land, baute sich an der Küste ein Kanu, ruderte hinüber zu den Poor Knight Inseln und fragte nach lebendigen Schweinen. Der Inselhäuptling aber wollte keineswegs sein Monopol aufgeben und sagte nein. Unverrichteter Dinge zog der Mann heimwärts, übel grollend und tief in seinem Stolz verletzt. 14 Jahre später kam er zurück, um sich zu rächen. Nunmehr mit Feuerwaffen ausgerüstet, die er von den weißen Siedlern eingetauscht hatte, setzte er abermals über und richtete ein Massaker an unter den Inselbewohnern. Kaum jemand überlebte, seither sind die Felsen tabu, ein Ort, wo man nicht hingehen darf. Die Natur ist dankbar! Hier gibt es halbmeterlange Skolopender, 120 Jahre alte Flaxschnecken und über handtellergroße Riesen-Weta, eine Art Grille oder Schabe.
25.01.2020 Sandy Beach, Whangaumu Beach, Wellington Bay
Gestern noch haben wir neben der Maorifamilie am Sandy Beach gecampt und Seeigel (urchins) zu essen bekommen. Man bricht sie mit zwei Löffeln auf und isst sie lebendig. Uns genügt ein kleiner Probierhappen, die Dinger sind schlabbrig und schmecken extrem salzig. Mit unserer Parkplatznachbarin und ihrer kleinen Tochter frühstücken wir am anderen Morgen. Die beiden leben in diesem Auto, nur im Winter ziehen sie zu Verwandten in ein richtiges Haus. Aber ganz glücklich scheint uns die Frau nicht. Ihr Partner und Vater des Kindes stammt von einer Südseeinsel und ist viel unterwegs. Seine Leute wohnen in der Nähe, aber es ist nicht einfach mit ihnen zusammenzuleben. Immer, wenn sie sich durch ihren Jadeschmuck etwas erarbeitet oder gekauft hat, kommt jemand aus dem Clan, findet es schön oder praktisch und nimmt es sich. Das sei ganz normal, so leben die eben, meint sie. Aber sie hat sich noch nicht so ganz daran gewöhnt.
Wir genießen die letzten Tage unseres Vagabundenlebens, besuchen keinerlei Sehenswürdigkeiten, sondern suchen uns ein weiteres schönes Strandplätzchen. Länger als eine Nacht dürfen wir nicht auf einem Parkplatz bleiben, allabendlich kommen die Ranger zur Kontrolle. Wenigstens sind sie freundlich, solange alles passt: Self-contained muss das Auto sein und natürlich muss man seinen Müll wieder mitnehmen.