Das goldene Morgenlicht streift über die Baumwipfel. Die
Landschaft ist hügelig und in den Senken liegt an manchen Stellen noch ein
leichter Schleier von Morgennebel. Schnurgerade zieht sich die Straße in einer
breiten Schneise durch den Wald. Von einem zum anderen Horizont erscheinen
Farbverläufe von verschiedenen Grüntönen. Die Erde ist tiefrot. Als die Sonne
etwas höher steigt, erkenne ich: Es sind Flecken von Urwald, die stehen
geblieben sind zwischen Baumplantagen, Weideland, Sojafeldern und entlang der
Straße entlang ziehenden Siedlungen. San Ignacio, Aristobalde del Valle und Eldorado
heißen die Dörfer im Bundesstaat Misiones. Häuser und Nebenstraßen machen auf
mich einen pionierhaften Eindruck, auch wenn die Gegend zweifellos schon länger
erschlossen ist. Viele Holzlaster, Tankwägen und Pickups sind auf der Straße
unterwegs. Gern würde ich nachlesen, was ich mangels Netz auf später
verschiebe. Mein Telefon teilt mir mit, dass es sich mittlerweile sowohl im
uruguaischen als auch im brasilianischen und paraguaischen Netz einloggen
wollte, ich soll doch noch die entsprechenden Roamingpakete kaufen. Wir
befinden uns im letzten nordöstlichen Zipfel Argentiniens, der sich zwischen
Paraguay und Brasilien wie ein Finger hochreckt. Über die Nacht gibt es nicht
viel zu berichten, die Mitreisenden haben kaum geschnarcht, der Schaffner kam
nur ein paar Mal um eine Haltestelle auszurufen und die Toilette ist jetzt kein
angenehmer Ort.
Angesichts der schier endlosen Plantagen von Eukalyptusbäumen
und Pinien vermute ich Übles und lese nach: Unter uns im Boden liegt der Acuifero
Guarani, eines der größten Grundwasservorkommen weltweit. Dieser ist so groß
wie Frankreich, Spanien und Portugal zusammen! Wie nicht anders zu erwarten,
ist dieser unterirdische Schatz aktuell sehr gefährdet. Wie so viele Sauereien
von der Weltbank finanziert, wurden Tiefbrunnen gebohrt und Wasserrechte
privatisiert. Die Nutzungsrechte haben sich internationale Konzerne unter den
Nagel gerissen. Warum hat man hier im Urwald Flächen gerodet? Die schnellwachsenden Bäume versorgen die Papierindustrie
in Europa und Japan mit Unmengen an Zellulose. Im tropischen Klima der Länder
Brasilien, Uruguay, Paraguay und Argentinien wächst auf den riesigen Sojafeldern
das Futter für die deutsche Massentierhaltung kostengünstig und schnell. Dass
dabei der Lebensraum der Ureinwohner und einer einzigartigen Tier-und
Pflanzenwelt zerstört sowie Jahrhunderttausende alte Wasserreserven angezapft
werden, wird wissend in Kauf genommen, ebenso wie die Tatsache, dass die
Pestizide aus der Sojakultur gleichzeitig die Grundwasserreserven zu vergiften
drohen.
In Puerto Iguazu gerät unser Empfang am Busbahnhof zunächst recht ruppig: Eine extrem dicke (oder schwangere?) Angestellte pfeift uns energisch zurück, weil wir den Bahnhof einfach so quer über die Busfahrspur verlassen wollen. So geht das nicht! Erstmal die Treppe hoch, hopp, hopp! Das ist nämlich der offizielle Ausgang. Ob sie dabei aus Sorge um unsere körperliche Unversehrtheit handelte? Mein Verdacht ist eher, dass es ihr vielmehr darum ging, uns in Richtung der Buden zu lotsen, wo die touristischen Tagestouren und Andenken verkauft werden.
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Eine kabarettreife Steigerung bietet sich anschließend im österlich geschmückten Café gegenüber dar. Nach fast 13 Stunden Busfahrt finden wir, wir haben uns einen Kaffee verdient und betreten hoffnungsvoll das Lokal. Ich sichere sogleich mit dem Gepäck einen Tisch, von wo aus ich den weiteren dramatisch-komischen Verlauf der Bestellung beobachte. Es beginnt mit dem Kampf um die Karte. Mehrere potentielle Kunden ringen um das Menü, alle haben sie es unterlassen, zuvor an einem entsprechenden Spender eine Nummer zu ziehen. Als schließlich meine Mädels eine Karte erhascht haben, gelingt es ihnen kurz später auch, einer der Bedienungen habhaft zu werden, die sich prompt anschickt, einen komplizierten und umfangreichen Bestellzettel auszufüllen. Heiliger Bürokratius, Schutzherr der Amtsstuben und Stempelkissenschläfer! Ein paar hilflose Blicke später stellt man sich an der einen oder anderen Ausgabe am Tresen an, nichts passiert, dann fällt der Blick auf eine Kasse… ah ja: Die junge Frau mit der Weihnachtsmütze nimmt den Zettel und das Geld, nein, sogar die Kreditkarte. Sie schreibt einen neuen Coupon aus, eine neue Odyssee beginnt am Ausgabetresen. Da! Wieder taucht eine bemützte junge Frau auf und reißt mit ein paar barschen, unverständlichen Worten einen kleinen Abschnitt des Coupons ab. Verwirrt setzt sich der weibliche Teil meiner Familie zu mir. Wir erwägen schon zu gehen, da kommt auch schon (eine gefühlte Ewigkeit später) unsere Bestellung quasi von selbst an den Tisch: Der Cappucchino trägt ein Gebirge aus Sahne mit einer roten Kirsche, dass man direkt vom Anschauen Völlegefühle bekommt; das Croissant ist gefüllt mit einer halbflüssigen Caramellcreme, die jeden deutschen Zahnarzt in Ekstase versetzen würde. Allein mein Café Cortado ist lecker, wenn auch viel zu klein. Noch einen bestellen? Lieber nicht.
Auch wir befinden uns im coranabedingten Ausnahmezustand – gesund, aber abgeklemmt im Urwald Nordargentiniens. Bald gibt es ein Update.
Die nationale Hauptstadt des Helado argentino, des argentinischen Speiseeises heißt Rosario. Das Eis schmeckt tatsächlich sehr lecker hier, kein Wunder bei 35° im Schatten. Ich ziehe trotzdem das hervorragende cerveza artesanal (Craftbeer) vor. Che Guevara, der sympathische Massenmörder, Revolutionär, Guerillakämpfer und Buchautor wurde hier im Jahre 1928 geboren. Leider haben wir weder sein Geburtshaus noch sein Denkmal gesehen, denn die Stadt ist zu Fuß nicht zu bewältigen. Fahrräder konnten wir uns keine ausleihen und auch die Benutzung der Stadtbusse wollte uns nicht gelingen. Taxis sind sehr teuer und Remises schwer zu bestellen. Gegen den Kontrollzwang von Behörden, Bank- und Verwaltungsangestellten kommen wir mitunter kaum an. Zum Bezahlen mit Kreditkarte oder um am Bike-sharing teilzunehmen braucht man stets ein Ausweisdokument, auf Onlineformularen und Chipkartenlesegeräten sollen wir ständig unsere Passnummern eintippen. Natürlich wissen wir diese inzwischen längst auswendig, was uns aber nichts hilft. Irrwitzig ist nämlich, dass die deutsche Kombination aus Buchstaben und Zahlen nicht vorgesehen ist, also lassen wir manchmal einfach die Buchstaben weg. Wenn das nicht funktioniert, müssen wir gezwungenermaßen bar bezahlen oder auf das Angebot verzichten. Bar zahlen wir sehr ungern, denn am Geldautomaten können wir kaum mehr als 2000 Pesos, etwa 28 € abheben. Dafür wird dann eine unverschämte Gebühr von bis zu 600 Pesos abgebucht, rund acht €. Ob sich mit diesem Geld das marode Bankwesen bereichert? Für soziale Zwecke jedenfalls wird es wohl nicht investiert, die Straßen sind voller armer Leute.
Rosario liegt am Rio Parana. Rund 350 Kilometer vor seiner Mündung ist er immer noch tief genug für riesige Ozeandampfer. Der Nationalheld Manuel Belgrano hisste an seinem Ufer im Jahre 1812 erstmals die argentinische Nationalflagge, ein gigantomanisches Flaggenheiligtum soll daran erinnern. Zum Schwimmen eignet sich der Parana leider weniger. La Florida soll der schönste Strand der Stadt sein – ich habe in meinem ganzen Leben noch keinen hässlicheren gesehen. Wir sitzen eingezwängt auf einem vertrockneten Stückchen Rasen. Dicht neben uns lärmt eine Horde Kinder, das rostige Schaukelgestell quietscht misstönend und bildet eine interessante Klangcollage zusammen mit dem ohrenbetäubenden Bass der Outdoordisco. Eben hat ein Paar im Rentenalter auf der anderen Seite Platz genommen; unbeeindruckt vom Lärm packen sie Klappstühle und Kühltaschen aus. Wahrscheinlich sind sie beide taub. Wir beschließen, uns im Fluss abzukühlen, doch zuvor müssen wir auf dem glühend heißen Sand im Zickzack um hunderttausend Schirme sprinten. Angenehm kühl ist das Wasser mit der Farbe von Milchkaffee, man meint es zischen zu hören, als wir eintauchen. Der feinkörnige Schlamm am Grund saugt förmlich an unseren Füßen. Vorwitzig tauche ich unter der massiven Bojenkette hindurch, um ins tiefere Wasser zu gelangen – doch das ist nicht gestattet. Sobald mein Kopf wieder auftaucht, pfeift mich der Rettungsschwimmer auf seinem Turm warnend aus. Wehe! Hier ist das Wasser schon hüfttief, also lebensgefährlich.
Nachdem wir unsere Pässe viermal vorgezeigt haben, sitzen
wir endlich wieder im Bus. Unser Weg führt heute weiter nach Colon, wo wir den
Nationalpark El Palmar besuchen wollen. Die Autobahn verläuft zunächst auf
einem hohen Damm zwischen Flüssen, Seen und Sumpfgebieten. Entre Rios heißt die
Gegend, also zwischen den Flüssen. Tatsächlich fahren wir etwa 300 Kilometer
vom Rio Parana zum Rio Uruguay, der die Grenze zum Nachbarland darstellt. Wo
die Feuchtgebiete trockengelegt wurden, erstrecken sich riesige Weideflächen
und Getreidefelder bis zum Horizont. Vor allem Rinder, ein paar Schafe sind zu
sehen; Reis, Mais, Weizen und Unmengen an Soja werden angebaut.
Colon begrüßt uns mit einer feinen Patina aus Staub. Häuser, Autos, Pflanzen, Straßenhunde und bald auch wir sind von Staub bedeckt. Genauso wie die Landschaft rundherum ist alles knochentrocken und staubig. Nur die wichtigsten Straßen sind hier asphaltiert, alle anderen bestehen aus Staub. Jedes Fahrzeug zieht eine gigantische Schleppe aus Staub hinter sich her. Nur am Ufer des Rio Uruguay gibt es einen schmalen Streifen aus feuchtem Staub, dahinter beginnt der Strom. Fast zweieinhalb Kilometer ist er hier breit, man kann hinübersehen nach Uruguay.
Eins ist sicher: Colon ist kein besonders bekanntes touristisches Ziel, vielmehr „off the beaten track“. Umso besser. Dank unserer Tochter haben wir dieses Juwel Argentiniens entdecken dürfen, denn sie hat sich dieses Eck ausgesucht. Im Nationalpark sind wir fast allein mit den Wasserschweinen, Adlern und Schmetterlingen. Die sympathischen Capivaras stehen in Gruppen mitten in schlammigen Tümpeln, bei ihren Hinterteilen steigen immer wieder viele Bläschen auf. Gänzlich entspannt und ohne jede Hemmung furzen sie, sie haben kein Problem damit. Mit dem Remis, einer Art Privattaxi haben wir uns hin und zurück fahren lassen. Ein absolutes Highlight war das Baden am menschenleeren Strand des Rio Uruguay: Wenn auch das Wasser nicht perfekt blau und klar ist, der Strand ist einsam mitten in der hitzeflirrenden Natur des Nationalparks.
An den Wechselkursen beobachten wir, dass der argentinische Peso praktisch täglich abgewertet wird. In den paar Tagen seit wir Buenos Aires verlassen haben, ist der Euro von knapp 70 auf nunmehr 84 Pesos gestiegen. Für die argentinische Wirtschaft ist das schlimm, für uns dagegen gut. Wir müssen schauen, dass wir zwar stets über einen kleinen Vorrat Pesos verfügen, dieser aber bloß nicht zu groß, weil sonst rasch wertlos wird. Währenddessen ist der Niedergang der hiesigen Wirtschaft nicht zu übersehen. Viele Häuser und Geschäftsräume sowie Grundstücke stehen zum Verkauf. Besonders kleine und mittlere Unternehmen überstehen den neoliberalen Wirtschaftskurs der Regierung nicht. In einem Artikel lese ich über die „empresas recuperadas“, nach Insolvenz von den Mitarbeitern besetzte und in eigener Regie weitergeführte Betriebe. Es ist zwar nicht die Regel, dass so etwas passiert, aber die Zahl solcher Ereignisse steigt an. Radiosender, Schulen, Kliniken und Fabriken werden von (Mit-)Arbeiterräten übernommen. Ein Zukunftsmodell? Mit wachsender Verunsicherung und aufkeimender Sorge verfolgen wir auch die Nachrichten über die Corona-Pandemie. Unsere Familie daheim ist noch nicht betroffen, hoffentlich bleibt das so. Werden wir unsere Reise wie geplant fortsetzen können, wenn nach und nach die Ländergrenzen geschlossen werden? Wird unsere Tochter planmäßig nach Deutschland zurückkehren oder ist es besser, wenn sie lieber länger bei uns hier in Südamerika bleibt? Aber es ist sinnlos, sich Sorgen zu machen, also verbringen wir unseren letzten Tag mit unserem zugelaufenen Teilzeithund Perrito faul am Strand des Rio Uruguay.
„Va a Avenida Mexiko?“, frage ich den Busfahrer in meinem glockenklaren Spanisch. Seine Antwort ist ein langgezogener Krächzlaut, aber irgendwie scheint die Vokabel Mexiko auch darin vorzukommen. Hätte ich doch eins der Mädels fragen lassen! Meine Frau und meine Tochter haben diese Sprache schließlich gelernt. Wir steigen ein. Schließlich hat mir doch meine satellitengestützte Navigationsapp glaubhaft versichert, wir müssten in den 60er Bus einsteigen. Ferner, dass der fragliche Bus einmal pro Minute fahren würde. Ha! Dass ich nicht lache. Die ersten fünf Busse mit der entspechenden Nummer lassen sich erstmal gar nicht herab, für uns anzuhalten. Dann lange nichts, es fahren alle anderen, nur kein 60er. Und jetzt der arme Mann mit dem Halsproblem. Ob er wohl Corona hat? Der Virus , der halb Europa lahmlegt, ist längst auch hier angekommen. Nein, wir sind uns einig, er hat mich nur verbessert: „Calle Mexiko“, nur spricht man das halt nicht wie spanisch [ˈka.ʝe] aus, sondern eher wie ein gekrächztes, gleichzeitig weiches, verschwurbeltes [ˈkak.se]. Denn unsere Straße ist eine Calle, keine Avenida. Hätte ich ja wissen müssen. Der Gute ist definitiv nicht krank, sondern vielmehr sehr fit und freundlich. Knapp eine Stunde und rund 40 Haltestellen später im dichtesten Berufsverkehr und bei komplett vollem Bus dreht er sich um und macht uns darauf aufmerksam, dass wir jetzt aussteigen müssen.
Seit ein paar Tagen schon halten wir uns in Buenos Aires auf. Die Stadt hat einen wunderbaren Charme und ist voller Gegensätze: Jung, lebendig und leidenschaftlich wie der Tango, der hier geliebt und gelebt wird; alt-ehrwürdig getragen und voller Prunk sowie gleichzeitig arm, geflickschustert und improvisiert. Eine gewisse Melancholie ist zu spüren, denn die Reichtümer dieses schönen Landes werden so gar nicht gerecht verteilt und genutzt. Für uns ist Buenos Aires ganz etwas besonderes, denn unsere Tochter ist hierher gekommen, um uns zu besuchen. Gemeinsam wollen wir die nächsten Wochen Argentinien, Uruguay und vielleicht Brasilien bereisen.
Die japanischen Gärten im noblen Stadtteil Palermo haben uns sehr gefallen, aber der ehemalige Zoo fast noch besser. Dem privaten Betreiber wurde vor ein paar Jahren die Konzession entzogen, nun wird das Gelände in einen EcoParque umgewandelt. Ein paar Tiere gibt es noch, die überwiegend frei zwischen und durch die Gehege herumstreifen. Besonders hat es uns der Reha angetan. Für uns sieht es aus wie eine Mischung aus Reh und Hase, deshalb Reha. Später stellt sich heraus, dass die Maras oder Großen Pampashasen in die Ordnung der Meerschweinchen gehören.
Auf einer Walking-Tour wandern wir durch das Hafenviertel La Boca. Einst war es eine Gegend, wo die Armen lebten; heute wandelt es sich langsam zum In-Viertel. Die Randgebiete des Barrios sollte man jedoch nur mit Vorsicht und keinesfalls alleine oder nachts betreten. Im touristischen Kerngebiet Caminito dagegen drängeln sich Touristen aus aller Welt. Auf der Straße stehen überall unübersehbar Figuren berühmter Personen herum: Vor allem x-fach der Fußballspieler Diego Maradona, der aus diesem Viertel stammte. Man glaubt es kaum, allein im fußballbegeisterten Buenos Aires gibt es sechs Maradona-Kirchen: Insbesondere zum Heiraten sind diese beliebt. Die Besonderheit dabei ist, dass Jesus dort die Züge des Fußballers trägt, die Madonna die seiner Mutter. Mehrfach begegnet uns Papst Franziskus, der Bischof der Stadt war und ein besonderes Herz für die Armen hat, ebenso wie Evita Peron, die früh verstorbene Gattin des Präsidenten. Noch heute ist sie bei vielen Leuten beliebt und wird verehrt. Überhaupt haben die Argentinier ein großes Herz und viel für Verehrung übrig, so gibt es mehrere inoffizielle wundertätige Heilige, Gauchito Gil etwa, eine Art Landarbeiter-Robin Hood, für den man überall im Land Schreine errichtet.
Evita überall, auch fast 70 Jahre nach ihrem Tod
Tangokonzert in der Eckkneipe
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Abends bereiten wir im Hostel mit Luis und Sebastian aus Kolumbien, Nigel aus Schottland und Ben aus Straubing Arepas zu. Die Bewohner sowohl Kolumbiens als auch Venezuelas beanspruchen die Teigtaschen aus Maismehl als jeweiliges Nationalgericht. Angeblich ließen sich schon die kannibalischen Kariben Arepas mit Menschenhack schmecken. Wir können den Streit auch nicht klären, belassen es heute aber bei der rein vegetarischen Variante.
Fin del mundo, Ende der Welt heißt die Gegend. Dort liegt ein 630 Quadratkilometer großer Nationalpark, der die südlichsten Urwälder unseres Planeten beherbergt. Heute habe ich ein kleines Nickerchen gehalten auf der Wiese vor dem See. So lieblich und angenehm war das Wetter, wer hätte das gedacht? Knappe 960 km sind es von hier noch bis zur Antarktis. Dennoch ist die Landschaft einladend: Wälder aus südlichen Buchen und rhododendronartigen Sträuchern säumen den Weg, die Strände des Südpolarmeeres sind wild und der Kies besteht aus schieferartigem Bruchgestein gemischt mit Muschelschalen. Im Wasser schwappt der Kelp mit jeder Welle hin uns her, in der Ferne leuchten die Schneehauben der Berge. Leider ist der Weg entlang der Küste ziemlich feucht und viele Matschlöcher halten uns auf, die im dichten Unterholz kaum zu umgehen sind. Für die rund acht Kilometer brauchen wir dann tatsächlich auch fast vier Stunden. Die krüppeligen Buchen sehen allesamt aus wie Baumbarts kleine Brüder im Fangornwald. Flechten gibt es hier auch, teils auch riesige mistelartige Aufsitzerpflanzen. Große Gallen sitzen an jedem dritten Stamm oder Ast, die Bäume sind gewiss vielfältigen Belastungen durch Klima, Wind, Trockenheit ausgesetzt. Wir sind es auch, das ewige Auf und Ab entlang des Küstenpfades zehrt an den Kräften. Die Ausblicke aufs wild schäumende Meer entschädigen jedoch für die Strapazen.
Unsere Zimmernachbarn, ein Paar aus Oregon sind gerade von einer Antarktiskreuzfahrt zurück. Sie berichten, dass sie bei den Landgängen auf dem Kontinent des Südpols ihre dicken Überlebensanzüge Schicht für Schicht ausgezogen haben, weil es viel wärmer war als erwartet und angekündigt.
Wir buchen einen Halbtagesausflug per Schiff auf dem Beagle-Kanal. Die Anbindung des gesamten pazifischen Raumes von der Westküste Nord- und Südamerikas über Australien und die Südsee an die europäischen Mutterländer lief vor dem Bau des Panamakanals über die Südspitze Südamerikas. Der Beaglekanal – eigentlich eine Meerenge oder ein Fjord, kein Kanal – war die bevorzugte Passage für alle Segelschiffe, die die Umrundung des berüchtigten Kap Hoorn vermeiden wollten. Später, als die Schiffe mit Dampf und schließlich mit Dieselmotoren auch gegen den Wind navigierten, fuhr man bevorzugt durch die Magellanstraße ein paar Hundert Kilometer weiter nördlich. Je weiter südlich, umso brutaler herrschten Wind und Strömung.
Wir lernen weitere Einzelheiten über die Ureinwohner Feuerlands. Diese Menschen besiedelten die unwirtlichen Gebiete seit Jahrtausenden friedlich und lebten als Sammler und Jäger von Robbenfleisch, Muscheln und Wurzeln. Mit den neuzeitlichen Entdeckern kamen vor allem Krankheiten und Alkohol, mit beiden konnten die Yamanas, Selk’nam, Haush und die anderen Stämme nicht umgehen. Später ließen die Großgrundbesitzern die Indianer systematisch durch Kopfgeldjäger töten oder vergiften. Von etwa 3000, die hier zur Zeit der Ankunft der ersten Europäer lebten, blieben zehn Jahre (1890) später noch 1000. Bis 1910 waren es nur noch 100. Heute huldigen den Indianern Wandgemälde.
Wir waren zwar schon ein paar Tage in Argentinien, aber das war nur ein kurzer Ausflug über die Grenze nach Calafate, um den Nationalpark Los Glaciares zu besuchen. Heute fahren wir richtig über die Grenze nach dem argentinischen Teil von Feuerland in die südlichste Stadt der Welt, Ushuaia. Darum jetzt meine Kurzinformation über das Land Argentinien, wer sich nicht dafür interessiert, kann diese gern überspringen. Ich jedenfalls finde es immer ganz passend, ein wenig über das Land Bescheid zu wissen, das ich gerade bereise. Während draußen eine sehr eintönige, flache aber nichtsdestoweniger schöne Grassteppe vorbeizieht, fasse ich das Wichtigste zusammen:
Argentinien ist der achtgrößte Staat der Erde und der zweitgrößte Südamerikas. Wegen seiner riesigen Ausdehnung (fast 3700 Kilometer von Nord nach Süd) und vielfältigen Höhenlagen hat das Land Anteil an mehreren Klima- und Vegetationszonen. Der Landesname ist eine Ableitung aus dem lateinischen Wort für Silber – argentum – und stammt aus der spanischen Kolonialzeit. Bis zu seiner Unabhängigkeit 1816 war das Land Teil des spanischen Kolonialreiches. Mit rund 44 Millionen Einwohnern steht Argentinien in Südamerika an dritter (nach Brasilien und Kolumbien) und in ganz Amerika an fünfter Stelle. Etwa ein Drittel davon lebt im Ballungsraum der Hauptstadt Buenos Aires, die als bedeutendes Kulturzentrum Amerikas gilt. Hier hat unter anderem der Tango Argentino seinen Ursprung. Weitere Ballungszentren bilden die Städte Córdoba, Rosario, Mar del Plata und Mendoza. Große Teile des trockenen und kalten Südens sind nur sehr dünn besiedelt.
Bis etwa 1950 war Argentinien eines der reichsten Länder der Erde. Wirtschaftlich spielten traditionell die Landwirtschaft, Viehzucht und der Rohstoffabbau eine große Rolle, wenn auch heute der Dienstleistungssektor mit rund 60 % den größten Anteil am BIP ausmacht. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts war das Land stark durch die Einwanderung aus Europa geprägt, vor allem aus Italien und Spanien. Die wichtigsten politischen Etappen seitdem sind der Peronismus (1946–1955; 1973–1976), mehrere Militärdiktaturen (insbes. 1976–1983), die Redemokratisierung (nach 1983) und der Neoliberalismus (1990er Jahre) bis zur Argentinien-Krise 2001 und der darauf folgenden Konsolidierung sowie die erneute Rezession. Augenblicklich wird angesichts der extremen Staatsverschuldung und Inflation ein Schuldenschnitt diskutiert.
Der gesamte Westen wird von den Anden eingenommen, der längsten kontinentalen Gebirgskette der Erde. Der zentrale Norden Argentiniens ist der Gran Chaco, eine heiße Trockensavanne. Östlich davon schließt sich entlang des Río Paraná das Hügelland der Provinz Misiones an. Dort befinden sich am Dreiländereck Argentinien–Paraguay–Brasilien die Iguazú-Wasserfälle; sie sind etwa 2,7 Kilometer breit und zählen zu den größten der Erde. Südlich davon, zwischen den großen Strömen Río Paraná und Río Uruguay, liegt das feuchte und sumpfige Mesopotamia. Am Río de la Plata, dem gemeinsamen Mündungsgebiet dieser beiden Ströme, liegen die Stadt Buenos Aires und die gleichnamige Provinz, das wirtschaftliche Herz Argentiniens. Westlich und südlich von Buenos Aires erstrecken sich die Pampas, eine grasbewachsene Ebene, wo der größte Teil der Agrarprodukte des Landes erzeugt wird. In dieser Region befinden sich große Weizenfelder und Weideflächen für Rinder; die Ausfuhr von Rindfleisch brach ab 2005 als Folge von Exportbeschränkungen und -verboten der Regierung von 771.000 Tonnen auf 190.000 Tonnen ein. 2017 gingen wieder 308.638 Tonnen Rindfleisch in den Export. Zwischen den Pampas und den Anden liegen im zentralen Argentinien die Gebirgszüge der Sierras Pampeanas. Das im Süden Argentiniens gelegene Patagonien ist von starken Westwinden geprägt und hat ein sehr raues Klima. Die höchsten Berge des Landes liegen in den Anden: der Aconcagua mit 6961 m Höhe und die beiden höchsten Vulkane der Erde, der Ojos del Salado mit 6880 m und der Monte Pissis mit 6795 m. Argentinien hat trotz seiner lang gestreckten Küstenlinie nur wenige Inseln. Die größte ist die zum Archipel Feuerland gehörende Isla Grande de Tierra del Fuego mit 47.020 km², die sich Argentinien (Provinz Tierra del Fuego, 21.571 km²) und Chile (25.429 km²) teilen. Völkerrechtlich umstrittenes Territorium sind die Falklandinseln (spanisch Islas Malvinas), eine Inselgruppe im südlichen Atlantik. Sie gehören geographisch zu Südamerika, liegen 600 bis 800 km östlich von Südargentinien und Feuerland und sind britisches Überseegebiet. Seit 1833 werden sie von Argentinien beansprucht. Die Besetzung der Inseln durch Argentinien am 2. April 1982 löste den Falklandkrieg aus, der bis zum 14. Juni 1982 dauerte und mit einer Niederlage für Argentinien endete.
Etwa 90 Prozent der Bevölkerung stammen nach der offiziellen
Statistik von eingewanderten Europäern ab, hiervon 36 % von Italienern, 29 %
von Spaniern und 3 bis 4 % von Deutschen. Nur eine Minderheit der Argentinier
sind ausschließlich Nachkommen der insgesamt 30 Ethnien, die vor dem Eintreffen
der Spanier auf dem Landesterritorium lebten. Die soziale Situation des Landes
ist in mehrerlei Hinsicht durch eine starke Ungleichheit gekennzeichnet. So
gibt es einerseits wie in ganz Lateinamerika ein großes Wohlstandsgefälle
zwischen Ober- und Unterklasse, andererseits gibt es große regionale
Unterschiede. Rund um die Hauptstadt ist die Einkommenssituation am besten, im
Nordosten am schlechtesten. In Folge der Krise und Rezession leben rund 40% der
Menschen unterhalb der Armutsgrenze.
Die Fahrt findet schon rasch eine Unterbrechung: In Punta Delgada ergibt sich ausgiebig die Gelegenheit, chilenische Fährleute beim Rangieren ihrer Schiffe zu studieren. Mit offener Bugklappe fährt das riesige Schiff an den Anleger, der nichts weiter darstellt als eine Betonrampe in die eisigen Wellen der Magellanstraße. Offenbar hat man hier noch nie was von der Katastrophe der Estonia gehört? Warum unser Bus nicht mit der ersten und auch nicht mit der zweiten Fähre mitfährt, erschließt sich dem uneingeweihten Fahrgast nicht. Wir stehen stundenlang im Wind, der hier in Orkanstärke blast. Mir reißt der Sturm den Reißverschluss an einem Hosenbein vom Oberschenkel bis zur Ferse auf. Fähren kommen, Fähren legen ab. Wir beobachten, wie Tanklastzüge und riesige Lastwägen Anhängern voller Schafe von Bord rollen. An dem Knick, wo die stählerne Rampe der Fähre auf der betonierten Schräge des Anlegers schrappt, setzen sie regelmäßig mit dem Heck auf, während sich das Schiff mit vollem Einsatz der Seitenstrahl-Ruderanlage mühsam auf der Stelle hält. Endlich, bei der vierten oder fünften Fähre dürfen wir an Bord gehen, es ist die schäbigste von allen, die wir hier gesehen haben. Vielleicht hat die Busfirma ein Abo bei eben dieser Fährgesellschaft? Wir werden gleich in ein enges Kabuff neben dem Frachtraum gelotst. Die Überfahrt ist eher langweilig, denn außer den zum Teil recht heftigen Bewegungen des Schiffrumpfes bekommt man nichts mit. Dass das Seewasser über die haushohen seitlichen Aufbauten der Fähre hinweggespritzt hat bis an die Busfenster erkennen wir an den Salzkrusten auf den Fensterscheiben. Als wir in Feuerland anlegen, ist das erste, was ich durch die – wiederum offene – Bugklappe sehe, ein riesiges Wandgemälde an einer Mauer: Mapuchegesichter. In letzter Zeit hat es bei den Nachkommen der Ureinwohner eine Rückbesinnung auf alte Traditionen gegeben und ein gewisser Stolz auf die Herkunft ist aufgekommen. Der Fähranlegeplatz ist weniger als ein Fleck auf der Landkarte: Ein paar Häuser, eine Cafeteria, ein Campingplatz. Die letzten knapp 200 Kilometer auf chilenischem Boden fahren wir nun auf der Insel Feuerland. Hier scheint es die Guanakos in größerer Zahl zu geben als auf dem Festland, man sieht sie viel öfter neben der Straße. In den kleinen Salzlagunen sehen wir immer wieder Gruppen rosafarbener Flamingos stehen. Sie verbringen hier den südlichen Sommer, im Winter werden sie wieder nach Norden in die Atacama- und Uyuniwüste ziehen, stets auf der Suche nach ihrer Haupt- und Lieblingsnahrung, winzigen roten Salzkrebslein, die ihnen auch zu ihrer Farbe verhelfen. Der Grenzübertritt nach Argentinien wird mit peinlicher Bürokratie bewältigt, allein die Beamten der beiden südamerikanischen Länder Chile und Argentinien haben bei mir mehr als zwei Seiten des Passes vollgestempelt. Zum Glück müssen wir nicht mehr nach Chile zurück, die Zöllner dort sind mit dem Gepäck extrem pingelig und durchsuchen alles ganz genau. Der Argentinier dagegen ist da schon eher lässig; hier sind auch die Straßen erstmal nicht geteert und es fehlen die in Chile unvermeidlichen Zäune entlang der Straße. Dafür stehen jetzt mehr Rinder als Schafe in der Landschaft herum. Bald schon sehen wir wieder das Meer. Seit über drei Monaten haben wir uns im und am Pazifik herumgetrieben, ab jetzt ist es der Atlantik.
An Rio Grande beginnt auch wieder die Zivilisation: große
Zweckbauten, Ladekais, Autoschrottplätze und Fabriken säumen die Landstraße.
Die Landschaft wird immer hügeliger, dann richtig bergig. Der Bus folgt der
engen Straße, die sich steil den Hang hinauf Richtung Paso Garibaldi windet.
Tief unter uns im Tal mäandert ein Fluß, der Rio Olivia in vielen Kurven dahin.
Seine Ufer und Kiesflächen sind voller abgestorbener Bäume. Wir haben gelesen,
dass hier Biber ausgesetzt wurden, um das Spektrum des jagbaren Wildes zu
erweitern. Leider passen die Dammbauer gar nicht in das hiesige Ökosystem.
Sobald sie wie gewohnt Bachläufe und Flüsse aufstauen, sterben die südlichen
Urwälder ab, denn sie können die Feuchtigkeit nicht verkraften. Mit über zwei
Stunden Verspätung treffen wir nach einer zwölfstündigen Busreise am späten
Abend in Ushuaia ein, das Ende der Welt ist endlich erreicht. Es ist längst
dunkel und ein Taxi gibt es auch nicht. Gut, dass wir den ganzen Tag im Bus
gesessen sind – so macht uns der Marsch bergauf nicht viel aus. Irgendwann
kommt doch ein Taxi daher, wir halten es an. Die Vorsichtsregel „Nie in ein
Taxi einsteigen, das du nicht selbst per Telefon hergerufen hast!“ gilt doch in
der südlichsten Stadt der Erde nicht, oder? Jedenfalls ist der Fahrer sehr
nett, wir finden unser Hostel zunächst nicht und starren alle in unsere Handys.
Als sich herausstellt, dass wir direkt davor stehen, müssen wir herzlich
lachen. Die Herberge ist ein echter Glückstreffer: Nette Leute, ein gemütliches
Haus.
Ushuaia, Gletscherpfad Luis Martial
Der Regen geht in Schnee über, der Schnee in Hagel. Zum Glück bläst der Wind nur in Sturmstärke, längst kein Orkan wie zuletzt im Torres del Paine. Rund 17 Kilometer wandern wir an diesem Tag stramm, in Ushuaia gibt es Gletscher schon auf gut tausend Meter über Meereshöhe. So schöne Berge hätten wir hier unten in Feuerland gar nicht erwartet. Ein grandioses Panorama öffnet sich vor und über uns, der Blick auf den Gletscher erfreut die Wanderer, frischer Neuschnee bedeckt bei weitem nicht nur die Gipfel, sondern auch die Hänge bis hinab zu der Stelle, wo wir uns gegen sen Schneesturm stemmen. Leider müssen wir den Weg zum Gletscher kurz vor dem Ziel abbrechen, obwohl er weder technisch noch konditionell besonders anspruchsvoll ist. Wir besitzen beide keine wasserdichten Hosen, ich keine Handschuhe. Schon bald sind wir klatschnass ab der Hüfte abwärts und die eisige Kälte beißt uns auch obenrum, denn die Jacken halten auch nicht dicht. So drehen wir um und gehen stattdessen den kurzen Abstecher zum Mirador (Aussichtspunkt) über Ushuaia. Der Ausblick ist wunderbar, in der Bucht vor der Stadt blinkt das Meer stellenweise wieder blau, sobald eine Lücke zwischen den Wolken die Sonne durchlässt. Der heftige Wind beginnt schon hier unsere nasse Kleidung trocken zu pusten, leider bringt das zusätzliche Kälte. Unten im Wald der Südbuchen wird der Wind leichter, die verdrehten kümmerlichen Bäume bieten einen guten Schutz. Wir wandern entlang eines munteren Bergbaches, der Weg ist schlammig, aber durch Knüppel und Stege passierbar. In der Stadt besorgen wir uns dann doch noch argentinische SIM-Karten für die Handys, ein neues T-Shirt für Andrea (mit Pinguinen!) und eine leckere Paella für uns beide. Beim Absacker in der Eckkneipe kommen Musikanten herein, um ein Spontankonzert zu geben. Mit Geige und Gitarre tragen die zwei ein paar Lieder vor, die uns und alle anderen Gäste begeistern. Ein schöner Tag!
Ein wenig ärgern wir uns, dass unsere Möglichkeiten in dieser grandiosen Landschaft doch recht eingeschränkt sind. Die Touren zu den schönsten Stellen im Park sind durchorganisiert von Anfang bis Ende. Ameisenstraßen von grellbunten Goretexträgern winden sich über den berühmten W-Trek und zum Basecamp der Torres. Ohne monatelange Vorbestellung bekommt man nicht mal einen Campingplatz. Einfache Hostels verlangen im Park Phantasiepreise ab 300€ pro Nacht. Den Nationalpark kann man zwar mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichen, aber das wars dann auch. Weiter von den wenigen Haltestellen geht’s dann nur zu Fuß oder per Anhalter. Doch auch die Busse zurück in die Zivilisation fahren schon recht zeitig. Individuelle, weniger begangene Wanderwege erreicht man nur mit dem eigenen Auto beziehungsweise mit dem Mietwagen. Wir müssen wohl auf eine organisierte Bustour ausweichen, wenn wir noch etwas vom berühmten Torres-de-Paine-Nationalpark sehen wollen.
Die Tour entpuppt sich als Glückstreffer. Der junge Matias, unser Guide und Don Miguel, der Fahrer zeigen uns die Highlights des 2420 Quadratkilometer großen Nationalparks. Die Zahl der fußlahmen Mitfahrer in unserem Mitsubishi-Bus ist überschaubar, etwa 20 Leute sind es, überwiegend Chilenen. Alle sind wir begeistert von den überwältigenden Ausblicken. Unsere Berge daheim kommen mir im Vergleich dazu vor wie eine Spielzeugeisenbahnlandschaft. Kein Wunder, dass die Gipfel hier viel kolossaler wirken: Wir stehen auf 120 bis 160 Meter über Meereshöhe, da wirkt ein zweieinhalbtausend Meter hoher Berg extrem gigantisch. Die Torres del Paine sind Teil eines einzigartigen Bergmassivs: Fast senkrechte Felsnadeln zwischen 2600 und 2850 Meter Höhe werden begleitet von zwei gigantischen gletscherbedeckten Bergstöcken, dem Paine Grande und dem Almirante Nieto. Die hellen Granitflanken tragen Spitzen aus dunklem Konglomeratgestein. Paine bedeutet in der Sprache der Ureinwohner Tehuelqe blau: An 30 Tagen des Monats ist nämlich der Himmel bedeckt und die Berge haben dann eine dunkelblaue Farbe. Wir haben einen Tag mit wechselnder Bewölkung und ziemlich viel Sonne erwischt – fast ein Wunder!
Kondore, Guanakos
und Pumas bevölkern den Park in relativ großer Zahl: Die Guanakos und Kondore sehen
wir heute auch aus der Nähe, die Pumas leider nicht. Begegnungen mit den
Raubkatzen sind jedoch gar nicht so unüblich. Miguel zeigt uns einen Video auf
seinem Handy: Eine Pumamutter und ihre zwei drolligen Babys überqueren eine
Straße direkt zwischen wartenden Autos.
Der Wind bläst uns am Lago Grey fast von den Füßen. Vor uns liegt der Strand des Sees, dahinter der Gletscher Grey. Das Wasser ist so aufgepeitscht, dass wir noch hundert Meter vom Ufer entfernt Gischt abbekommen. In deutlicher Schräglage kämpfen wir uns gegen den Orkan, bis wir die knallblauen Eisberge aus der Nähe sehen. Unterhalten kann man sich hier nicht, die Worte werden vom Sturm weggerissen, bevor sie das Ohr des andern erreichen. Kleine Sandkörnchen brennen wie Nadeln im Gesicht. Windgeschwindigkeiten von 100 Stundenkilometern sind ganz normal, der bisher gemessene Rekord war 207 Stundenkilometer. Nicht umsonst wird davor gewarnt, an gewissen Stellen im Park das Auto abzustellen. Immer wieder werden leichtere Pkw vom Wind davongeblasen.
Die Busfahrt ins nahegelegene Argentinien ist wieder eine einzige Schau. Die tiefstehende Sonne beleuchtet die Berge spektakulär, wieder sehen wir mehrere Kondore über den Gipfeln kreisen. Das Land ist so unglaublich weit. Solche Weite habe ich bisher nur in der Wüste oder am Meer erlebt. Doch hier ist es wieder ganz anders. Die langgestreckten Wolken unterstreichen die Weite noch, auf der riesigen Ebene ist nichts außer Grasbüscheln, Zäunen, ein paar Felsen und Sand. Immer wieder sind kleine Herden Guanakos zu sehen, ab und zu auch ein Nandu. Ein oder zweimal pro Stunde taucht eine Estancia naben der Straße auf; stets mit einem Windrad für die Wasserpumpe und ein paar Bäumen als Windschutz. Als wir aus der Hochebene ins Tal des Rio Santa Cruz herunter fahren, ist die Fernsicht überwältigend. Bis weit hinein in die Anden sind die Berge sichtbar, das sind etwa 200 Kilometer.
Doch schon kurz drauf sind wir angekommen in El Calafate, einer Kleinstadt mit riesiger Ausdehnung. An der hoch über der Stadt gelegenen Busstation gibt es auch keinen Geldautomaten. Wacker treten wir den Fußweg zu unserem Hostal an. Etwas anderes bleibt uns auch nicht übrig, denn wir haben kein argentinisches Geld und kein Internet, um einen Uber zu bestellen. Der Wind fegt uns beinahe davon. In Puerto Natales wurden wir schon gewarnt, dass man an gewissen Stellen sein Auto nicht abstellen sollte, immer wieder werden Pkws vom Wind umgeworfen und davongefegt. Unser Weg endet in einer Sackgasse, wir laufen zurück.
Auf dem anderen Weg endet der Asphalt nach ein paar hundert Metern und wir bauen unsere Trolleys zum Rucksack um. Im Kies leiden die Rollen sehr durch den Staub, so leiden nur unsere Bandscheiben und unsere Bindehäute. Die vorbei brausenden Pickups und Geländewägen wirbeln davon ausreichend Material in die Luft. Die Adresse, zu der uns unsere Offline-Satelliten-Navigationsapp leitet, erweist sich als vollkommen falsch. Wir landen an einem Campingplatz. Wer will bei nächtlichen Temperaturen um den Gefrierpunkt schon zelten? Der freundliche Wirt weist uns den Weg, nur verstehen tun wir nicht viel davon. Wir irren weiter über Schotterpfade, wieder tragen wir unsere Packen auf dem Rücken, bei mir verkrampft sich alles. Da vorn, ein Taxistand! Trotz aller Vorbehalte bin ich jetzt soweit, ein Taxi zu nehmen. Da stellt sich heraus, dass der Taxistand genau gegenüber von unserem Hotel ist. Nach dem Einchecken läuft es wie von selbst: Geldautomat (sauteuer!), Einkaufen, lecker Essen… ein Traum.
Perito Moreno Gletscher und Lago Argentino
Der Ausflug zum Gletscher ist der Hammer. Wir haben das bestmögliche Wetter erwischt, die Fernsicht und der wolkenlose Himmel sind überwältigend. Der Gletscher gehört zum großen patagonischen Inlandeisfeld zwischen Chile und Argentinien, nach der Antarktis das größte zusammenhängende eisbedeckte Gebiet auf der Südhalbkugel. Eine riesige Wand aus Eis erstreckt sich etwa fünf Kilometer breit in die südwestliche Flanke des Lago Argentina. Obwohl der See hier rund 160 Meter tief ist, ragt der Eispanzer noch bis zu 70 Meter über die Wasseroberfläche hinauf. Winzig kommen wir uns angesichts dieses Naturwunders vor.
Wir nehmen das Gletscherboot, um über den eisigen See bis kurz vor die Eiswand zu fahren. Durch den immensen Druck, der auf dem Eis lastet, kracht und knallt es alle paar Minuten. Wie riesige Zähne ragen die Eissäulen dicht gepackt nebeneinander auf, immer wieder brechen große Eisblöcke vom Gletscher ab. Mit lautem Getöse donnern sie ins Wasser, das Echo hallt mehrfach nach. Ich stelle mir unsere Stadtpfarrkirche daneben vor. Die Kirchturmspitze würde nicht mal über den Rand emporragen. Nach der Schiffstour wandern wir noch über die sehr gut ausgebauten Wege des Nationalparks um die Gletscherzunge herum. Zurück in der Stadt lernen wir beim Abendessen in der Pizzeria nicht nur eine chilenische, sondern außerdem eine französische und eine argentinische Familie kennen. Sehr unterhaltsam!
Die Landschaft ist wunderbar öde und weit. Kaum etwas ist da, an dem sich das Auge festhalten kann, nur leere, trockene Steppe mit ein wenig Gras und etwas niedriges Strauchwerk. Die Bäumchen, die hin und wieder in flachen Mulden stehen sind windschiefe Krüppel, verdreht und schief, tragen lange Bärte aus Flechten, dafür kaum Blätter. In einem flachen Salzsee steht eine Gruppe rosafarbener Flamingos. Nach eineinhalb Stunden erreichen wir die erste Siedlung am Weg: Tehuelches hat etwa 30 Häuser. Nach etwa zwei Stunden wird das Land hügeliger, die Bäume höher, doch kurz darauf wieder flache Steppe. Wie viele zigtausend Kilometer Zaun hier wohl verbaut sein mögen? Immer sieben oder acht Stempen, dann ein größerer Pfosten, zehn Stempen, ein größerer, verbunden mit fünf endlosen Drähten. Irgendwo muss es wohl auch Schafe geben wozu wären da sonst die Zäune? Ab und zu sieht man welche, dann auch ein paar Pferde in der Endlosigkeit. Die Wolken treiben über diese wunderbare Weite dahin, damit ihr Spiel von Licht und Schatten die Steppe ein wenig belebt.
Mit Letizia und Esteban unterhalten wir uns super, wenn auch immer nur unter Zuhilfenahme vieler Hände und Füße. Übersetzer-Apps helfen schon bald nicht mehr, denn wir sind mit dem Ausflugsschiff in der zerklüfteten Fjordlandschaft um Puerto Natales unterwegs und schon bald ohne Netz. Die beiden sind aus Conception in der Mitte Chiles und machen hier Urlaub. Er handelt mit Fisch und Meerestieren. Natürlich reden wir auch über die abnehmenden Fischbestände, unsere Länder und das Reisen. Die politische Situation in Chile gefällt Esteban gar nicht. Der Mittelstand verliert immer mehr Einkommen, die Reichen werden immer reicher, der Liberalismus blutet Land und Menschen aus. Wir erfahren, dass im April ein Referendum abgehalten werden soll, keine Wahl. Es geht um eine Änderung der Verfassung, die Opposition möchte, dass der Staat auch für Bildung und Gesundheitsvorsorge in Verantwortung tritt. Momentan sind weiterführende Schulen und insbesondere Universitäten derart teuer, dass sich die meisten jungen Chilenen gegen eine Familiengründung entscheiden oder höchstens ein Kind haben – aus Kostengründen.
Der Ausblick auf die
wolkenverhangenen Berge entlang des Ultima Esperanza Sound (Fjord der letzten
Hoffnung) ist beeindruckend, bei Sonne wäre er bestimmt noch schöner. Wenn wir
an Deck gehen, bläst es uns beinahe um, der Wind ist extrem. Wir fahren
geradewegs auf den 2035 Meter hohen Berg Balmaceda zu und sehen den
gleichnamigen Gletscher ein paar Dutzend Meter über der Meeresoberfläche enden.
Anschließend drehen wir nach Nordosten ab und legen vor der Laguna Serrano an. Wir
steigen aus und gehen eine kurze Wanderung zum Serranogletscher. Markierungen
zeigen an, wie weit das Eis vor zwanzig und vor vierzig Jahren noch reichte. Es
sind etwa 500 und 1000 Meter Unterschied! Die Crew serviert Whisky mit
Gletschereis, um auf der Rückfahrt die Stimmung zu heben.
Heute haben wir außer einer Stadttour zu Fuß nichts weiter vor. Der junge Guide erzählt Details aus der Stadtgeschichte. Im Jahre 1919 gab es größere Arbeiterrevolten, in deren Verlauf auch das Handelhaus der Familie Braun angezündet wurde. Gebracht hat es den Arbeitern aber nichts, weder ihre Forderungen nach besserer Bezahlung oder Versorgung noch Gewerkschaften wurden ihnen zugebilligt, obwohl der Aufstand auch auf die Region und bis ins benachbarte Argentinien übergriff. Über tausend Arbeiter ließen dabei ihr Leben, die Mächtigen trieben ihr Spiel aber weiter wie zuvor. Die Gegend war unter wenigen riesigen Großgrundbesitzerfamilien aufgeteilt. Manche davon bezahlten Kopfgeldjäger für die abgeschnittenen Ohren der letzten der noch hier lebenden Indianer. Durch Vertreibung und Krankheiten sind diese jedoch spätestens bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ausgerottet worden.
Die Magellanpinguine auf der Isla de Magdalena haben ihre ganze Insel für sich. Besucher dürfen nur auf einem abgesteckten Pfad einen etwa zwei Kilometer langen Rundweg gehen, aber sobald ein Pinguin über den Weg will, hat dieser „Vorfahrt“. Die Ranger und Guides passen sehr gut auf, dass sich alle Touristen daran halten. Uns gefällt der Besuch bei den putzigen Vögeln sehr, auch wenn der Wind extrem kalt ist und von allen Seiten zugleich zu blasen scheint.
Magellanpinguine werden bis zu 25 Jahre alt, sind etwa vier Kilogramm schwer und bis zu 70 Zentimeter groß. Sie tauchen etwa 12 Minuten lang und bis zu 100 Meter tief nach ihrer Nahrung, Sardinen und ähnlichen kleinen Fischen. Wenn sich ein Paar gefunden hat, graben sie flache Erdhöhlen und das Weibchen legt nach nur zwei bis drei Tagen zwei Eier. Beide Eltern wechseln sich beim Brüten und später beim Großziehen der Küken ab. Da hier in der Magellanstraße das Nahrungsangebot so reichhaltig ist, kann ein Alttier schon nach sechs bis acht Stunden genug Fisch für sich und den Nachwuchs fangen. In anderen Kolonien, etwa auf den Falklands dauert dasselbe zwei Tage – dort überleben selten beide Küken, während das hier auf Magdalena die Regel ist. Sobald die Kleinen ihren Federflaum verloren haben und das wasserdichte Federkleid der Erwachsenen tragen, ziehen alle Tiere der Familie ihrer getrennten Wege. Die Jungen wandern vier Jahre auf der Südhalbkugel mit den Meeresströmungen über Argentinien bis Brasilien den Atlantik hoch, andere wählen die Pazifikseite und kommen bis Nordchile oder weiter. Viele tausende Kilometer schwimmen sie, ohne jemals festes Land zu betreten. Die Jungen suchen sich zur Paarungszeit und Brut nach vier Jahren einen Partner, der dann lebenslang der gleiche bleibt. Erstaunlich, wie die Tiere nicht nur genau zurück zu dieser winzigen Insel, sondern auch zu ihrem Partner und zur alten Bruthöhle finden.
Der Friedhof von Punta Arenas ist nicht nur einer der südlichsten Chiles, sondern es soll auch der schönste ganz Südamerikas sein. Uns beeindrucken die aufwendigen Gruften reicher Großgrundbesitzer kaum mehr als die einfachen Grabstellen armer Leute. Egal wie viel Geld einer gehabt haben mag, von den meisten bleibt nur ein Name und vielleicht ein paar Zahlen auf einem Grabstein. Viele der Grabstellen sind verfallen, die wenigsten scheinen regelmäßig gepflegt zu werden. Offenbar werden die Gräber hier nicht bloß für ein paar Jahre vermietet. Plastikblumenschmuck oder wilde Ringelblumen und Mohn? Geschmackssache. Kilometerlang sind die Wände mit den Urnenfächern. Viele davon haben die bizarr mit Nippes dekoriert. Plastikschafe, Winkekatzen und Schneemänner lassen auf Vorlieben der Verstorbenen oder der Hinterbliebenen schließen.
Am Denkmal des unbekannten Indiojungen hängen viele Danktafeln für erfüllte Wünsche. Aufgestellt wurde es hier um an die zahllosen Menschen der indigenen Völker zu erinnern, die von den weißen Siedlern umgebracht wurden. Es soll Glück bringen, der bronzenen Staue des Indianers die Hand zu schütteln, jedenfalls ist das Metall dort ganz blank. Genauso der glänzende Fuß des Indianers am Denkmal Hernando Magellans: Ich sehe zu, wie ein Mann seinen kleinen Sohn hochhebt, damit dieser sich an den Fuß hängen und diesen küssen kann. Warum frage ich mich, mussten die Völker der Selk‘nam und Yaghan erst ausgerottet werden?
Wir laufen rund vier Kilometer an der Autobahn entlang. Der eisige Wind bläst uns zum Glück in den Rücken. Nur wenn wir uns umdrehen, bläst er uns ins Gesicht. Warum müssen wir uns überhaupt umdrehen? Um zu schauen, ob nicht vielleicht doch ein Collectivo, ein Sammeltaxi in unserer Richtung unterwegs ist. Für 500 CLP (60 Cent) kann man einsteigen und so weit mitfahren, wie man möchte. Aber nur, wenn gerade ein Collectivo da ist. Unserem Fall eben leider gerade nicht. Eigentlich sind wir heute schon genug gewandert. Erst waren wir im Nationalpark. Etwa acht Kilometer sind wir durch einen wunderbaren Wald südlicher Buchen und über Hochmoor- und Heidelandschaften gelaufen, leider die meiste Zeit im Regen und schneidenden Wind.
Am nordöstlichen Ende der Stadt gibt es ein Schiffsmuseum. Zwischen Werftgeländen und Freihafen hat dort ein Mann seine Mission gefunden: Er baut historische Schiffe nach. Die Victoria, mit der Magellan 1519 die Welt umsegelte, sowie Darwins Beagle. Auch Shackletons Ruderboot liegt hier im originalgetreuen Nachbau, Maßstab 1:1. Unfassbar, dass Menschen mit diesen vergleichsweise winzigen Wasserfahrzeugen riesige Ozeane überquert haben.
Kennt ihr die Geschichte von Ernest Shackleton? Ein echter Held und verhinderter Entdecker. Bei einer gescheiterten Südpolexpedition (1914-17) wurde sein Schiff, die Endurance im Packeis festgefroren und nach fast einjähriger Drift zerquetscht. Die Männer campierten monatelang auf einer Eisscholle, bis sie mit den drei Rettungsbooten viele Kilometer durchs Treibeis der Antarktis zur unbewohnte Insel Elephant Island manövrierten. Da diese jedoch öde und weitab aller Schiffahrtsrouten lag, machte sich Shackleton mit fünf seiner Leute auf, Hilfe zu holen. Mit einem winzigen Ruderboot segelten sie mit dem Mut der Verzweiflung 15 Tage lang bis Südgeorgien, wo sie schließlich auf Walfänger trafen. Doch es dauerte noch Monate und mehrere Versuche, bis Shackleton auch die zurückgebliebenen Männer von Elephant Island holen konnte. Ironie der Geschichte: Alle Mitglieder überlebten diese unglückliche Expedition in Kameradschaft und Fürsorge ihres Leiters. Wenige Monate später ließen die meisten ihr Leben auf den Schlachtfeldern des ersten Weltkrieges. Wir können in die Schiffe klettern und uns fühlen, wie damals die Entdecker. Und das am historischen Ort, direkt an der Magellanstraße! Am meisten berührt hat mich die Geschichte von Jemmie Button. Der junge Feuerlandindianer wurde wohl von Kapitän Robert FitzRoy, dem Kapitän der Beagle im Jahr 1830 entführt – oder nach anderer Lesart für einen Knopf gekauft und nach England mitgenommen. Im Jahr darauf, auf der zweiten Fahrt der Beagle brachte man ihn zurück in seine Heimat. Nach anfänglichen Schwierigkeiten hat er wieder bei seinem Volk Fuß gefasst und wollte auch später nicht mehr nach England zurück. Angeblich war Jemmy im Jahr 1859 am Wulaia Massaker beteiligt, als eine Gruppe Missionare von Yaghan Indianern getötet wurden. Michael Ende inspirierte die Geschichte Jemmy Buttons zu seinem Buch Jim Knopf.
Puerto Montt hat uns mit Regen überschüttet, das Museum, das wir besuchen wollten, hat zu und sonst gibt es hier NICHTS für uns zu gewinnen. Unser Versuch, einen Ausflug zu den Pinguinen in Punta Arenas zu buchen ist auch fehlgeschlagen. Wir fliehen ins Jumbo Einkaufszentrum, bestaunen den Konsumtempel und essen in der Cafeteria eine schlecht angemachte gefüllte Avokado. Als der Regen nachlässt, kommt tatsächlich wieder die Sonne raus. Wir laufen zur Hospedaje und schwören, nie wieder ohne Regenjacke und Wanderschuhe loszugehen.
Fünf Decken braucht man hier!
Die nächsten Stunden
verbringen wir in unserem schiefen Aufenthaltsraum zwischen den verschiedenen
Bildschirmen hin- und her navigierend. Wir versuchen, Klarheit über unsere
weitere Reiseroute zu erhalten. Ein Reiseplan ist rasch geschmiedet, doch spannend
wird die Umsetzung. Ich versuche, einen Bus zu buchen: Die Verbindung Punta
Arenas – Ushuaia ist gefragt. Kaum eine halbe Stunde dauert es, bis alle
erforderlichen Daten ins Online-Formular eingetragen sind. Warum, frage ich
mich, müssen wir da eine deutsche Adresse, Telefonnummer, Beruf und
Familienstand eingeben? Die Passnummern wissen wir inzwischen sowieso schon
auswendig. Als es ans Bezahlen geht, kommt der Clou: Die Anweisung per Kreditkarte
funktioniert nur mit einer Bestätigung über die Banking-App auf dem Handy.
Diese wiederum erfordert eine TAN. Selbstverständlich habe ich auch einen
mobilen TAN-Generator dabei. Mit zittrigen Händen schiebe ich die Scheckkarte
in den Schlitz und gebe den Code ein: Habe ich alles richtig gemacht? Da
rutscht mir das Gerät aus der Hand. Der Batteriedeckel öffnet sich und die
Knopfzellen springen munter heraus. Auf dem Schurwollteppich hört man weder
einen Aufprall noch ein Rollgeräusch, also verbringe ich die nächsten Minuten
im Vierfüßlerstand auf dem Fußboden. Als endlich alle Batterien wieder am Platz
und der Deckel eingesetzt ist, wundere ich mich, dass bisher kein Time-Out die
Verbindung gekappt hat. Der Schweiß steht mir auf der Stirn, erneut versuche
ich, die Bestätigung abzurufen. Doch die Maschine lacht mich aus, nur ein
kaltes „Kein Code“ prangt auf dem Gerät. Am Busbahnhof gibt es hoffentlich noch
einen Schalter.
Natürlich gibt es an
diesem Busbahnhof zu dieser Busverbindung keinen Schalter. Dafür hat nun das
Museum auf. Eine nette Ausstellung über die Stadtgeschichte und das große
Erdbeben von 1960. Das ausgestellte Sofa steht genau so schief wie in unserer
Unterkunft alle Möbel. Alles in Spanisch, keine Übersetzungen. Überhaupt ist
das Spanisch hier kein spanisches Spanisch, sondern definitiv eher chilenisch,
also ganz anders. Wir beschließen, nochmal essen zu gehen. In dem kleinen
Fischlokal über dem Markt gibt es jede Sorte Fisch, solange es Lachs ist. Andrea
mag keinen Lachs und bestellt ab. Daraufhin bringt die Kellnerin auch für mich
nichts. Dass das so bleibt, blüht uns erst nach zwei Bier und zwei Wein.
Hungrig, aber beschwingt verlassen wir die Servicewüste und suchen uns ein
anderes Lokal.
Fazit: Der Apfel-Nuss Kuchen von heute früh und die liebe Umarmung unserer Mitbewohnerin („Me encantan los abrazos!“) waren die Highlights des Tages. Aber immerhin. Daheim hat AKK gerade aufgegeben und die thüringischen Politikkapriolen sind miese Vorzeichen für unser Land. Dann doch lieber eine Umarmung von einer wildfremden Oma.
Denkmal für die deutschen Siedler
Punta Arenas
Was sagst du zu
einer Umarmung vom Taxifahrer, der dich gerade zum Flughafen gebracht hat?
Genau, du bist baff. Ich habe das Gefühl, dass es jetzt wirklich aufwärts geht.
Jedenfalls schmeckt der Chop Austral Calafate (eine Halbe leckeres Bier aus Patagonien)
Die Shrimps mit Knoblauchbutter sowie die Muschelsuppe sind mit das Beste, was
wir bisher in Chile zu essen bekommen haben. Andrea will unbedingt noch in die
Freihandelszone, um sich eine warme Daunenjacke zu kaufen. Ihren
neuseeländischen Farmerpulli hat sie in Auckland entsorgt, deshalb braucht sie
jetzt für die morgige Pinguintour etwas Warmes. Ich habe mich entschieden, auf
Kiwi zu machen und laufe im T-Shirt durch Punta Arenas, während alle anderen Leute
Steppjacken tragen. Hoffentlich geht das morgen auch so gut. Meine Pullis und
mein Stirnband sind nämlich komplett in der Wäsche.
Hah! Welch eine
Überraschung! Eben war ich beim Patron, um ihm zu sagen, dass wir morgen kein
Frühstück, sondern ein Lunchpaket brauchen (ein linguistisches Abenteuer!). Er
hat mich jedenfalls verstanden, nur ich eben seine Antwort nicht. Zum Glück kam
dann mein Engel um die Ecke, um zu dolmetschen. Das beste ist: Unsere Wäsche
ist tatsächlich schon fertig! Ihr könnt euch nicht vorstellen, welche Freude
das für uns ist. Nicht nur, weil ich morgen um den Pulli froh sein werde,
sondern überhaupt. Daheim, Wäsche sortieren und zusammenlegen: Höchststrafe! Lieber
wasche ich zwei Autos und räume den Keller auf. Hier dagegen: ein Genuss. Zuerst
wird misstrauisch der Wäschesack entpackt: Ist auch wirklich wieder alles da?
Ungern erinnern wir uns an verwitwete Einzelsocken und komplett verlorene
Unterhosen. Man nimmt jedes Stück zärtlich in die Hand, riecht behaglich am
frischen Duft und streicht über den sauberen Flor. Aaah! Welch ein Genuss!
Wieder frische Sachen für eine Woche!
Marta, Renata und Johanna, drei sehr nette junge Mädels aus Santiago lernen wir abends im Gemeinschaftsraum kennen. Sie haben hier Wanderurlaub gemacht, dürften also nicht aus allzu armen Elternhäusern stammen. Nichtsdestoweniger sind sie gar nicht begeistert von der politischen und gesellschaftlichen Situation ihres Landes. Anfang März, so sagen sie, sind die Schulferien vorbei, dann geht es mit den Demonstrationen und Aufständen weiter, kein Zweifel. Wir fragen nach ihrer Einschätzung, ob sich nach den im April angesetzten Wahlen etwas ändern wird: Nein, wahrscheinlich nicht. Es sei eh gleich, wen man wähle, die da oben verfolgen ja ohnehin ihre eigenen Interessen. Von den drei ist nur Johanna alt genug, wählen zu dürfen, die anderen beiden sind noch nicht volljährig. Dennoch hat Marta schon jetzt fest vor, sobald sie achtzehn ist nach Kanada zu gehen, in ihrem Land sieht sie keine Zukunft für sich.