Valparaiso und nochmal Santiago

Die Hafenstadt Valparaiso am Meer gefällt uns sehr, auch wenn sie ihres Namens spottet. Erstens ist da kein Tal, zweitens gar nichts paradiesisch. Die Stadt ist extrem lebendig, jung und ein wenig kriminell. Kneipen, Kunst und Leben überall. Angeblich auch gefährlich. Als uns der Uber-Taxifahrer am Hostel in der Avenda Templeman absetzt, warnt er uns: Dies sei derzeit eine der gefährlichsten Straßen der Stadt, erst letzte Woche ist ein kanadischer Tourist ermordet worden. Wir sind ein wenig verunsichert und legen alle Wertgegenstände ab, nehmen nur ein Handy und ein wenig Bargeld mit. Auf den Straßen rundum ist alles voller Streetart, nachmittags sind viele Menschen unterwegs. Wir fühlen uns eigentlich ganz wohl und zweifeln ein wenig, was wir glauben sollen. Letztlich überwiegt die Vorsicht und wir sehen zu, dass wir vor der Dämmerung zurück in die Unterkunft kommen. Von unserer winzigen Dachterrasse aus genießen wir noch die Aussicht auf die Bucht, den Hafen, die Stadt. Auf dem Dach des Nachbarhauses steht eine rostige Isetta. Wie das bayrische Kleinstauto wohl hierher gekommen sein mag?

Unser Hostel La Acuarela ist ein wenig Kommune, ein wenig Villa Kunterbunt. Das ganze Haus wirkt wie aus Abbruchmaterial zusammengezimmert: Küche und Gemeinschaftsbereich sind ein entkernter Fachwerkbau, die gußeiserne Wendeltreppe ist so eng, dass ich kaum mit meinem Rucksack durchpasse. Einige Fenster sind mit farbigen Scheiben verglast wie in einer Kirche; jeder Türstock anders bunt gestrichen. Zwei der drei Duschen bleiben trotz besten Zuredens kalt, die Seife in den Spendern besteht zu 99 Prozent aus Wasser und die Handtücher sind kratzig und hart vom Kalk. Genau so wie ich es mag! Jeder Gegenstand hier atmet seine eigene Geschichte, alles ist alt und ein wenig schief, aber liebevoll angebracht und dekoriert. Jeden Tag kommen abends andere junge Leute, vor allem Frauen, kochen und essen zusammen. Manche übernachten auch hier, manche duschen und essen bloß, wohl weil sie keine andere Möglichkeit haben. Zahlende Gäste gibt es nur wenige. Der einzige Fixpunkt ist ein junger Mann aus Argentinien. Er ist der Nachtwächter und schläft im ersten Schlafsaal im Erdgeschoß. Wir wohnen mitten im Unesco-Weltkulturerbe. Überall rundum ist Kunst – aber nicht wie die Kunst aus einem Museum, sondern lebendige, brandaktuelle Kunst mit Botschaften von hier und heute.

Mit Juan José unternehmen wir eine Sightseeingtour zu Fuß durch die Stadt. Er zeigt uns die besten, sehenswertesten und neuesten murales (Streetart – Wandbilder) und führt uns durch das verwirrende Gewirr der Gassen und die angesagtesten Viertel – unser Hostel liegt zufällig mittendrin. Fast alle Wandbilder haben eine mehr oder weniger versteckte politische Botschaft, die meisten protestieren gegen die staatliche Repression, viele prangern die Unterdrückung der indigenen Bevölkerung oder den Raubbau an der Natur an. Auf einigen der gemalten Gesichter ist jeweils eins der Augen übermalt, teils in brutalem rot oder schwarz. Dies ist eine Art stiller Protest der Künstlergemeinde. Einige Demonstranten haben nämlich bei den Protesten im Tränengasnebel und Gummigeschoßhagel ein Auge verloren. Bei den Unruhen ging es um mehr als eine Fahrpreiserhöhung. Juan erzählt uns über die soziale Ungleichheit in Chile. Bessere Bildungschancen, angemessene Gesundheitsvorsorge und ausreichende Altersvorsorge sind in extremer Weise der reichen Oberschicht vorbehalten. Einfache Rentner haben kaum ein Auskommen, auf einen simplen Bluttest muss man Monate warten, wenn man keine private Krankenversicherung hat.

Meinen Geburtstag verbringen wir mit Herumwandern in der atemberaubenden Atmosphäre dieser Stadt. Zum einen wegen der Kunst, zum anderen wegen des Reizgases. Am Geruch erkennt man sofort die Viertel, wo die Demonstrationen stattfinden. Ich frage mich, wie es sein kann, dass es noch am nächsten Nachmittag derart ekelhaft stinkt; wahrscheinlich sind die Mauern schon imprägniert. Jede Nacht wird von der Polizei großzügig ein neuer Aufguss nachgelegt. Uns laufen die Nasen, der Hals kratzt und die Augen tränen. Oben auf dem Hügel  bei der Casa Sebastiana merkt man nichts davon. Hier lebte Pablo Neruda, der beliebte chilenische Poet, Nobelpreisträger und Freund Salvador Allendes. Seine Verehrer haben das Haus in ein sehenswertes Museum voller netter Details verwandelt.

Wirklich ärgern müssen wir uns aber, weil das Kaufen eines Bustickets für die nächste Etappe einfach nicht gelingen will. Irgendwie gibt es ein Problem mit der Seite des Busunternehmens, immer wieder hängt die ganze Sache, dann geht es doch weiter: Endlose Formulare müssen ausgefüllt werden. Warum will das Reiseunternehmen eigentlich wissen, ob wir verheiratet sind? Als ich dann zum Bezahlen komme, stockt der Prozess unerbittlich. Drei- oder viermal mache ich die ganze Tortur mit, dann gebe ich es auf. Wie damals in Indonesien habe ich nun einen ganzen Bus mit meinen digitalen Geisterklonen besetzt. Aber keins der Tickets kann ich bezahlen, geschweige denn wirklich bekommen.

Ipoh, abseits der Touripfade

Ewig ziehen die Palmölplantagen sich an den Gleisen entlang. Malaysia bedient zusammen mit Indonesien 80 Prozent des Weltbedarfes. Ipoh heißt unser nächstes Ziel, eine kleine Großstadt, überwiegend bewohnt von chinesisch-stämmiger Bevölkerung mit nettem Flair, kolonialer Altstadt und Streetart-Kunstszene.

Hier findet man noch das ursprüngliche Malaysia, heißt es. Tatsächlich ist die Stadt irgendwo zwischen Verfall und Aufbruch. Ein koloniales Erbe der Engländer sind die kleinen Reihenhäuser: Vorn ist stets ein Laden oder ein Lokal, hinten raus gibt es Zugang zu den „lanes“, Hinterhofgassen, wo die Mauern oft mit zeitgenössischen kunstvollen Graffitis verziert sind. Wir streifen stundenlang durch die Stadt und suchen die verschiedenen Kunstwerke auf, zwischendrin erfrischen wir uns mit Kaffee oder einer Pause im Stadtpark am Fluss. Die Wirtschaft wird überwiegend von Chinesen beherrscht, aber viele der Geschäfte stehen leer, einige Häuser sind verfallen. In einer oder zwei Straßen macht sich Aufschwung bemerkbar mit hippen Lokalen, Cafés und Designergeschäften.

Im indischen Viertel gibt es das beste Essen für einen Spottpreis: Zwei Portionen des Tagesmenüs, dazu zwei Lassi, das klassische Joghurtgetränk kosten 23 Ringgit (~unter 5€). Hier hat es uns immer geschmeckt. Achtung allerdings, nicht überall gibt es Besteck, denn die meisten Kunden essen mit den Fingern vom Bananenblatt. Am Nightmarket direkt bei uns um die Ecke konkurriert mindestens ein Dutzend chinesischer Schnellrestaurants um die Kundschaft; jedes scheint eine besondere Spezialität anzubieten: Salted Chicken, grilled Pork und steamed Chickenlegs – unser Geschmack ist es nicht. Gestern folgten wir nichtsahnend der Empfehlung des Kellners und bekamen zwei Teller Glibberzeug in unterschiedlichen Farben und marginal unterscheidbaren Konsistenzen, einmal eher schlabbrig wie Gelatine und einmal eher wabbelig wie Wackelpudding. Der Geschmack war nicht einzuordnen, die zerkleinerten knusprigen Schweinekrustenteile am Grunde des Tellers haben wir allerdings mit leichtem Ekel herausgeschmeckt. Wir reden uns ein, dass dies das echte unverfälschte Essen wie in China ist, eine Erfahrung allemal.

In jedem Fall muss ich mein Bild vom Menschen aus dem Reich der Mitte differenzieren. Der geneigte Leser sei erinnert an meine frühere Polemik über Selfie-Stick schwingende Volksgenossen, die bar jeden Feingefühls auf anderer Leute Intimsphäre und Zehen herumtrampeln. Zwar hat der Chinese auch in Ipoh im Allgemeinen weder Tischmanieren noch Esskultur (über Nasenziehen, Spucken und andere Körpergeräusche will ich an dieser Stelle beredt schweigen), nichtsdestoweniger haben wir hier durchaus nette Chinesen kennengelernt. Unsere Wirte beispielsweise bemühen sich wirklich um unser Wohl und kochen auch sehr gut; in der Stadt haben wir verschiedentlich von freundlichen Chinamenschen Auskunft erhalten, die übrigens auch gestimmt hat. Das ist, nebenbei bemerkt, in Asien durchaus nicht selbstverständlich: Oft fragt man irgendwelche Leute nach dem Weg und erhält irgendeine falsche Auskunft – nicht aus bösem Willen; sondern weil der Befragte die rechte Antwort nicht wusste, dies aber nicht zugeben konnte. Die Kunst ist es in so einem Fall, an der eher klaren oder eher unbestimmten Art der Antwort zu erkennen, woran man ist.