Paco muerte

02.02.2020 Santiago de Chile

Heute sind wir beinahe ein wenig zwischen die Fronten geraten. Ein ausgedehnter Spaziergang führte uns nach Bellavista: ein Künstlerviertel, welches auch für seine Cafés, Bars und Theater berühmt ist. Wir sehen nicht nur hervorragende Streetart, sondern auch das Haus, in dem einst Pablo Neruda lebte. Auf dem Weg begegnen uns im Parque Forestal viele Obdachlose und Bettler. Die Verlierer dieser Gesellschaft leben in Pappverschlägen, Zelten und Sperrmüll unter freiem Himmel. Kurz drauf wundern wir uns über viele Pflastersteine und Betonbrocken, die lose auf der Straße liegen. Hat hier ein Lastwagen einen Teil seiner Ladung verloren? Komischerweise hat das Pflaster auf dem Gehsteig viele Lücken.

Ein paar Straßen weiter lesen wir die Parolen und Graffitis an einem verbarrikadierten Gebäude – gerade sind Arbeiter dabei, eine Mauer vor die Glasfront im Erdgeschoss zu betonieren, große Rollen Stacheldraht schützen einen Balkon. Ich spreche einen jungen Mann an und erfahre, dass es sich um Gebäude einer privaten Universität handelt, die im Verlauf der Unruhen stark beschädigt wurden. Hier sei das Zentrum der Unruhen, so erklärt uns Carlos, hier versammeln sich allabendlich die Protestierenden. Wir sprechen fast eine Stunde lang mit ihm. Der Exilvenezolaner wohnt um die Ecke, das Tränengas kann man noch im ganzen Viertel riechen. Bei der Straßenschlacht gab es einen Toten – der Mann ist von einem gepanzerten Polizeiauto überrollt worden.

Wir stehen an einer sechsspurigen Straße, die wir überqueren wollen. Die Ampel ist ausgefallen. Zum Glück sind hier ein paar Jugendliche, die den Verkehr regeln: Sie tragen Warnwesten und pfeifen mit ihren Trillerpfeifen. Sie haben sich einen gefährlichen Job gesucht – nicht alle Autofahrer bremsen. Als wir später an die selbe Stelle zurückkommen, haben sie mitten auf der Kreuzung ein Lagerfeuer entzündet. Alkoholisiert oder unter Drogeneinfluss halten sie jetzt die Autos an, indem sie eine Reihe von Feuerlöschern auf die Straße stellen. Mit Schals oder T-Shirts ums Gesicht gewickelt fordern sie Geld von den Autofahrern – einige drehen schnell um, andere werden gestoppt, zahlungsunwillige werden mit dem Löschpulver eingestäubt. Wir sehen zu, dass wir wegkommen. Verständlicherweise bin ich nicht zum Fotografieren gekommen. Keine Minute später: Sirenengeheul, vergitterte Polizeiautos brausen heran. Paco muerte bedeutet so viel wie „Tod den Bullen“.