Am zweiten Tag und nach vielen Besuchen im Handyladen funktioniert das Ding, aber schon am anderen Morgen versagt die SIMkarte leider wieder ihren Dienst. Es ist zum aus-der-Haut-fahren. Dieses ständige Auf und Ab zerrt an unseren Nerven. Einerseits haben wir hier einen fast vollkommen unbrauchbaren Reiseführer auf dem E-book – kauft euch NIE einen Reiseführer für E-book! Zum anderen ist der Internetzugang auch per Handy zwecks Routenplanung für Andrea sporadisch und wackelig, mit meinem neuen Handy gar nicht möglich. Ohne Internet ist man als Individualreisender komplett aufgeschmissen. Gestern kam bei Andrea nach all dem Herumtauschen der SIMkarten die Frage, wo denn eigentlich ihre deutsche SIM ist? Die Folge ist ein fast einstündiges komplettes Auspacken aller unserer Besitztümer, jede Tasche, jedes Fach haben wir umgedreht. Ganz zum Schluss, nach der dritten Runde haben wir sie tatsächlich im Geldbeutel gefunden. Aber die Nerven lagen blank. In Situationen wie dieser sind wir nahe dran, die ganze Sache hinzuschmeißen und abzubrechen. Jetzt sitzen wir im Bus von Villarica nach Puerto Varas, das liegt etwas nördlich von Puerto Montt. Die Dimensionen dieses Landes sind unglaublich. Obwohl die Straßen in diesem Landesteil sehr gut ausgebaut sind und der moderne Reisebus fast immer das erlaubte Höchsttempo von 100 Stundenkilometern fährt, scheint es, als ob wir nicht vom Fleck kommen. Von Santiago bis hier haben wir neun Stunden gebraucht, heute nochmal fünf. Bis Punta Arenas wären es dann weitere 18 Stunden und von da bis Ushuaia nochmal 12 Stunden, wenn alles gut geht. Die Busse da unten fahren aber nicht jeden Tag, teilweise nur zweimal wöchentlich. Uns wird ein wenig Angst vor unserem Projekt. Seitdem mir mein Handy geklaut wurde, ist irgendwie die Leichtigkeit des Reisens verloren gegangen. Der Ärger mit der neuen SIM-Karte hat uns viele Stunden gekostet, von den Nerven ganz zu schweigen. Nichtsdestoweniger: Der Ausblick aus dem Busfenster ist atemberaubend. Stundenlang ziehen Wälder, Felder, Weiden an uns vorbei. Die Landschaft ist recht flach, aber weit im Osten schweben die schneebedeckten Gipfel der Vulkane überm Horizont. Puyehue, Casablanca, Puntiagudo und Osorno sind überwiegend perfekt kegelförmig und zwischen zwei- und knapp dreitausend Meter hoch.
Puerto Varas
Endlich geht’s aufwärts, sagt Andrea, als wir den steilen Berg zur Casa Rita hinauf ächzen. Es ist eine der schönsten Unterkünfte, die wir bisher auf unserer Reise hatten. Der fabelhafte Blick auf den See und die perfekten Vulkane dahinter entschädigt für den anstrengenden Aufstieg. Die meisten Gäste kommen wohl ohnehin mit dem Auto. Aber mit aufwärts meinte mein Schatz, dass wir heute mal wieder einen guten Tag ohne Zwischenfälle oder Probleme, geschweige denn Diebstähle hatten. Im Gegenteil, wir haben erfolgreich die Hindernisse der Onlinebuchung überwunden und einen Flug nach Punta Arenas, Patagonien gebucht. Und unser Gepäck haben wir auch schon eingebucht, das kostet hier natürlich extra, fast so viel wie die Tickets. Angesichts der gigantischen Dimensionen dieses Landes mussten wir einsehen, dass wir es per Bus nicht rechtzeitig bis Ushuaia, Feuerland schaffen werden. Am 1. März geht doch von dort unser Flug nach Buenos Aires, wo wir unsere Tochter treffen! Vorher wollen wir noch ein paar Berge, Gletscher, Seen usw. sehen. Es macht ja wenig Sinn, dauernd bloß im Bus beziehungsweise auf der Fähre zu hocken, zumal die Carretera Austral ja gar nicht ganz durchgeht, sondern immer wieder am Wasser der Fjorde und Lagunen endet. Also haben wir schon mal um 1300 Kilometer abgekürzt. Ferner haben wir schon ein Zimmer für die nächste Station, Puerto Montt gebucht. Es stellt sich nämlich heraus, dass man hier ohne Vorbuchung ziemlich schnell im Regen steht oder auf die teuersten und weit abgelegenen Unterkünfte ausweichen muss. Darüber hinaus haben wir eine kleine Kanutour gemacht und uns Räder ausgeliehen. Puerto Varas ist eine nette kleine Ferienstadt am Rand der Nationalparks um die Seen und Vulkane. Hier sind zwar jede Menge Touristen unterwegs, aber ausschließlich Chilenen. Es ist gelungen, die ausgetretensten Touripfade zu verlassen. Schließlich – und das hat uns am meisten gefreut, hatten wir ein Videotelefonat mit unseren lieben Freunden Elke und Frank daheim, die unsere Oma zum Kaffee da hatten. Jetzt geht’s aufwärts!
Petrohue Im Lavasand
Ausflug zum Osorno und Lago de Todos Santos von Puerto Varas
Der älteste Nationalpark Chiles liegt zu Füßen des Vulkans Osorno. Der Lago Llanquihue, Chiles zweitgrößter See lässt das ganze noch spektakulärer wirken. Mit 860 Quadratkilometern ist er deutlich mehr als doppelt so groß wie unser Bodensee. Das Valle Central Chiles, das Zentraltal erstreckt sich von Santiago bis hier etwa 1030 Kilometer durch das langgestreckte Land. Bei Puerto Montt etwa 30 Kilometer weiter südlich endet es, für viele Chilenen übrigens endet hier auch Chile. Als man Mitte des 19. Jahrhunderts beschloss, die südlichen Weiten Chiles zu besiedeln, fand sich keiner der spanischstämmigen Chilenen des Nordens bereit, diese Gegend zu bewohnen. Also lud man deutsche Auswanderer ein, da Land zu bewohnen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kamen rund 40 000 Deutsche, die nicht nur Puerto Montt gründeten, sondern auch binnen dreier Monate einen Weg bis hier zum Llanquihue See aus dem Urwald herausschlugen, Puerto Varas gründeten und die fruchtbaren Täler rund um die Vulkane Osorno und Calbuco bewirtschafteten. Der Calbuco übrigens ist erst vor vier Jahren ausgebrochen, seither wurden hier alle Häuser neu gebaut, weil sie unter der Last der Asche zusammenbrachen. Nur ein paar der alten Holzhäuser der deutschen Siedler haben der Katastrophe widerstanden, wie unser Führer Iwan nicht ohne Bewunderung erzählt. Überhaupt liegen angeblich in Chile 2900 Vulkane, also die Hälfte aller Vulkane weltweit!
Villarica, Stadt und Vulkan Der Osorno vom Lago de todos Santos aus
Wir genießen traumhafte Ausblicke auf den Osorno, dahinter lugt immer wieder der Puntigudo hervor. Die Berge rundum sind bereits Teil der Anden. Der Fluss Petrohue verlässt den knallblauen Lago de Todos Santos („Allerheiligensee“), um mit großem Getöse in einem spektakulären Wasserfall eine Lavabarriere zu durchbrechen, die der Osorno hier irgendwann einmal hingespuckt hat. 1869 ist er zuletzt ausgebrochen, aber immer noch aktiv. Unsere Tour führt uns bis zum Ende der Straße auf etwa 1240 Meter über dem Meer. Wir wandern noch rund 200 Höhenmeter weiter in der glühenden Sonne über den Lavasand und -kies. Der Ausblick reicht weit nach Westen über den ganzen Lago de Llanquihue, südlich bis zum Pazifik bei Puerto Montt, nach Osten bis zum riesigen Vulkan Tronador (3478 Meter). Nachdem ich zwar noch hölzerne Bauernhäuser mit Schildern „Kuchen“ sehe, aber keine Felder, frage ich nach. Ivan erklärt, dass die Farmer an den Hängen des Vulkans früher Milchwirtschaft betrieben, weiter unten im Tal wurden Kartoffeln, Tomaten anderes Gemüse, sowie Blumen angebaut. Doch heute geben die meisten Bauern ihre Farmen auf, weil sie unwirtschaftlich geworden sind. Viele stehen zum Verkauf, einige wurden in Ferienwohnungen umgewandelt.
Puerto Montt, Hospedaje Teresita
Beim Frühstück sind wir nicht mehr allein in der Casa Rita, wir essen zusammen mit einem jungen Paar aus Santiago. Der Mann ist ja ganz nett, aber seine Tussi eine arrogante dumme Gans. Von Rita dagegen verabschieden wir uns herzlich. Mit dem Bus gelangen wir in einer halben Stunde nach Puerto Montt, wo wir erstmal an einer Ausfallstraße in der gleißenden Sonne unsere Uber-App auf meinem Handy reaktivieren müssen. Durch den Wechsel des Gerätes ist da einiges durcheinander gekommen. Jedenfalls brausen wir kurz drauf mit unserem Fahrer durch die hügelige Stadt zur Hospedaje Teresita, einem Ersatzquartier. Unsere erste Wahl war überbucht und wir haben uns kurzfristig etwas anderes suchen müssen. Mal sehen, ob uns booking.com tatsächliche die Mehrkosten erstatten wird? Eigentlich ist es ja gar nicht unser Ding, aber es scheint praktisch unmöglich, zu reisen ohne vor zu buchen. JEDER tut es, wer es nicht tut, hat schlicht und einfach das Nachsehen und die teureren Zimmer. Ein sehr betagtes Ehepaar öffnet uns die wackelige Tür der windschiefen Herberge. Wir stolpern über eine niedrige Stufe, die ganz schief ins Haus hineinführt. Im Gang stapeln sich Heiligenbilder und -figuren. Noch schiefer ist der erste Stock, man läuft ständig bergauf oder bergab. Dafür ist auch hier offensichtlich für den himmlischen Segen gesorgt. Wir legen unser Gepäck ab und erkunden die Stadt. Hoffentlich gibt es heute kein neues Erdbeben.
Obwohl Puerto Montt durchaus eine der ältesten Gründungen der Region war, haben sich kaum historische Gebäude erhalten. Ein Erdbeben zerstörte fast alles im Jahre 1960. Nur ein paar kleine alte Bretterbuden stehen noch im Stadtkern, heute werden dort vor allem Kunsthandwerk und lokal typische Speisen verkauft. Die Gegend um den Busbahnhof soll man meiden, hier ist viel Gesindel unterwegs. Wir machen uns auf zum Fischmarkt Angelmo. Er liegt eingezwängt in zahllose Andenkenläden, die alle das gleiche Angebot haben: Holzschnitzereien, Wollartikel, Lederwaren und Modeschmuck. Im Fischmarkt gibt es Seehecht, Conger, Lachs, Austern und andere Muscheln sowie ein paar Krebse. Ganz nett, aber nicht wirklich beeindruckend. Am besten sind die kleinen Lokale rundum und oben drüber, wo man den frischesten Fisch zu sehr günstigen Preisen verspeisen kann. Inzwischen habe ich alle der hier üblichen Fischarten durchprobiert und habe meinen Favoriten gefunden: Der Lachs schmeckt mir am leckersten.
Dazu ist allerdings anzumerken, dass die chilenische Küche wirklich nicht die beste ist. Die Fische hier sehen wirklich erstklassig aus, aber das Ergebnis auf dem Tisch ist untere Mittelklasse. Sind wir inzwischen derart verwöhnt? Nein, das ist schlichtweg mies im Vergleich zu dem Fisch, den ich in Valparaiso beim Peruaner hatte. Auf Peru freue ich mich, denn die Peruaner können wirklich gut kochen. Die Chilenen würzen so gut wie gar nicht, kennen nur (sehr wenig) Salz und Zitrone. Sonstige Sehenswürdigkeiten (außer Essen und Trinken) bietet Puerto Montt keine.