Die Landschaft ist wunderbar öde und weit. Kaum etwas ist da, an dem sich das Auge festhalten kann, nur leere, trockene Steppe mit ein wenig Gras und etwas niedriges Strauchwerk. Die Bäumchen, die hin und wieder in flachen Mulden stehen sind windschiefe Krüppel, verdreht und schief, tragen lange Bärte aus Flechten, dafür kaum Blätter. In einem flachen Salzsee steht eine Gruppe rosafarbener Flamingos. Nach eineinhalb Stunden erreichen wir die erste Siedlung am Weg: Tehuelches hat etwa 30 Häuser. Nach etwa zwei Stunden wird das Land hügeliger, die Bäume höher, doch kurz darauf wieder flache Steppe. Wie viele zigtausend Kilometer Zaun hier wohl verbaut sein mögen? Immer sieben oder acht Stempen, dann ein größerer Pfosten, zehn Stempen, ein größerer, verbunden mit fünf endlosen Drähten. Irgendwo muss es wohl auch Schafe geben wozu wären da sonst die Zäune? Ab und zu sieht man welche, dann auch ein paar Pferde in der Endlosigkeit. Die Wolken treiben über diese wunderbare Weite dahin, damit ihr Spiel von Licht und Schatten die Steppe ein wenig belebt.
Mit Letizia und Esteban unterhalten wir uns super, wenn auch immer nur unter Zuhilfenahme vieler Hände und Füße. Übersetzer-Apps helfen schon bald nicht mehr, denn wir sind mit dem Ausflugsschiff in der zerklüfteten Fjordlandschaft um Puerto Natales unterwegs und schon bald ohne Netz. Die beiden sind aus Conception in der Mitte Chiles und machen hier Urlaub. Er handelt mit Fisch und Meerestieren. Natürlich reden wir auch über die abnehmenden Fischbestände, unsere Länder und das Reisen. Die politische Situation in Chile gefällt Esteban gar nicht. Der Mittelstand verliert immer mehr Einkommen, die Reichen werden immer reicher, der Liberalismus blutet Land und Menschen aus. Wir erfahren, dass im April ein Referendum abgehalten werden soll, keine Wahl. Es geht um eine Änderung der Verfassung, die Opposition möchte, dass der Staat auch für Bildung und Gesundheitsvorsorge in Verantwortung tritt. Momentan sind weiterführende Schulen und insbesondere Universitäten derart teuer, dass sich die meisten jungen Chilenen gegen eine Familiengründung entscheiden oder höchstens ein Kind haben – aus Kostengründen.
Der Ausblick auf die wolkenverhangenen Berge entlang des Ultima Esperanza Sound (Fjord der letzten Hoffnung) ist beeindruckend, bei Sonne wäre er bestimmt noch schöner. Wenn wir an Deck gehen, bläst es uns beinahe um, der Wind ist extrem. Wir fahren geradewegs auf den 2035 Meter hohen Berg Balmaceda zu und sehen den gleichnamigen Gletscher ein paar Dutzend Meter über der Meeresoberfläche enden. Anschließend drehen wir nach Nordosten ab und legen vor der Laguna Serrano an. Wir steigen aus und gehen eine kurze Wanderung zum Serranogletscher. Markierungen zeigen an, wie weit das Eis vor zwanzig und vor vierzig Jahren noch reichte. Es sind etwa 500 und 1000 Meter Unterschied! Die Crew serviert Whisky mit Gletschereis, um auf der Rückfahrt die Stimmung zu heben.
Heute haben wir außer einer Stadttour zu Fuß nichts weiter vor. Der junge Guide erzählt Details aus der Stadtgeschichte. Im Jahre 1919 gab es größere Arbeiterrevolten, in deren Verlauf auch das Handelhaus der Familie Braun angezündet wurde. Gebracht hat es den Arbeitern aber nichts, weder ihre Forderungen nach besserer Bezahlung oder Versorgung noch Gewerkschaften wurden ihnen zugebilligt, obwohl der Aufstand auch auf die Region und bis ins benachbarte Argentinien übergriff. Über tausend Arbeiter ließen dabei ihr Leben, die Mächtigen trieben ihr Spiel aber weiter wie zuvor. Die Gegend war unter wenigen riesigen Großgrundbesitzerfamilien aufgeteilt. Manche davon bezahlten Kopfgeldjäger für die abgeschnittenen Ohren der letzten der noch hier lebenden Indianer. Durch Vertreibung und Krankheiten sind diese jedoch spätestens bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ausgerottet worden.