Update

Auf der Suche nach einer Bleibe sprechen wir mit vielen Hotel- und Hostelwirten, die uns allesamt ablehnen. Einer davon ist sehr mitfühlend, umarmt uns sogar herzlich, aber aufnehmen könne er uns nicht. Er riskiere seine Existenz, wenn er das täte. Als wir ihm erzählen, dass wir auch schon bei der Polizei (erfolglos) nachgefragt haben, reagiert er entsetzt. Geht bloß nicht zur Polizei, rät er uns in aufgeregtem und schwer verständlichem Spanisch. Mit Gesten zeigt er Handfesseln und Kopf-ab. Er fürchtet, dass man uns dann die Pässe abnehmen und irgendwohin bringen könne.

Letztlich haben wir ein kleines Apartment gefunden. Der Vermieter wusste offenbar noch nichts von den Restriktionen und übersieht auch offenbar noch nicht die bevorstehenden Folgen. Hoffentlich bleibt er bei seiner Zusicherung, dass wir hier bis auf Weiteres bleiben können. Wir haben jetzt erstmal für eine Woche gebucht und bezahlt. Das Apartment hat drei Betten, einen Tisch und eine Spüle, einen Kühlschrank und eine winzige Kochplatte. Wenn hier die Restaurants schließen, können wir uns selbst versorgen, ein Wasserkocher ist da, wir können das Trinkwasser abkochen. Noch kann man einkaufen, wir hoffen bloß, dass die Leute hier nicht zu hamstern anfangen. Mit unseren dürftigen Sprachkenntnissen und der schwierigen Informationslage sind wir sicher die Letzten, die davon etwas mit- und etwas abbekommen.

Wir haben hier zwar kein WLAN, aber gestern immerhin noch daran gedacht, unsere argentinischen SIMkarten aufzuladen. Bis auf weiteres sind wir also noch online. Wir haben noch Bargeld, wenn auch zu horrenden Gebühren abgehoben. Egal.

Wir haben uns mehrfach bei den deutschen Auslandvertretungen gemeldet, allerdings kommen von der Botschaft und vom Auswärtigen Amt lediglich allgemeine Infomails zu uns, verständlicherweise sind die Mitarbeiter wahrscheinlich mit wichtigeren Fällen befasst. Die Onlineseite der Krisenliste „Elefand“ ist zuletzt sporadisch erreichbar, offenbar total überlastet. Die Informationen des Auswärtigen Amtes und der Botschaft in Buenos Aires verfolgen wir natürlich.

Heute gibt es zwar noch letzte Busverbindungen aus Iguacu heraus, aber die Busse sind sämtlich ausgebucht. Flüge gibt es ebenfalls keine mehr. Ab morgen schließen alle Restaurants, Hotels und Geschäfte, die Quarantäne gilt landesweit. Die Grenzen zu den Nachbarländern sind bereits geschlossen. Iguacu ist eine Kleinstadt in Grenznähe zu Brasilien, es gibt sogar einen Flugplatz. Meine Einschätzung ist: Solange wir kein Flugticket haben, ist es besser hierzubleiben, als panisch irgendwohin zu fahren, wo wir dann möglicherweise ohne Unterkunft schlechter dastehen als hier. Schon gar nicht in einer Millionenstadt wie Rio, Buenos Aires oder noch schlimmer Sao Paulo. Ich stelle es mir wenig reizvoll vor, in einem relativ armen, von Rezession und Pandemie gebeutelten Land auf der Straße zu leben, wenn hier der Horror erst so richtig losgeht. Im Übrigen ist es jetzt generell wenig sinnvoll, herumzureisen. Kontakte einschränken, das ist ja wohl der Sinn einer Quarantäne, oder?

Die wirtschaftlichen und sozialen Folgen dieser Krise sind nicht absehbar, zweifellos wird unsere Welt nicht mehr dieselbe sein. Vielleicht will der Planet uns zeigen, dass es genug ist? Gewiss hat Corona bereits jetzt mehr für das Weltklima getan als alle Klimaschutzpakete und Freitagsdemonstranten zusammen.

Wir danken den vielen lieben Freunden, die an uns denken und uns schreiben. Das tut gut. Wir denken auch an euch und wünschen euch mit ganzem Herzen, dass es euch gut geht.

Gestrandet und vergessen

Schließlich finde ich Zeit, das Erlebte zusammenzufassen. Der heutige Tag war ein Wechselbad der Gefühle. Heute hat uns unsere Wirtin eröffnet, dass das Hostel in zwei Tagen schließt. Dass wir dann auf der Straße stehen, tut ihr leid, aber sie hat ihre Anweisungen. Fast stündlich änderten sich die spärlichen Gerüchte und Informationen, die wir hier bekamen. Sind die Grenzen offen? Wo ist es besser, hier bleiben, nach Brasilien weitereisen, in eine andere Provinz fahren? Nun steht fest: Es gibt keine Busse mehr. Flüge schon gar nicht. Die anderen Gäste berichten Widersprüchliches. Wir machen uns sofort auf, Informationen einzuholen. Viele Kilometer laufen wir mehrfach zum Busbahnhof, zur Touristeninformation, zur Polizei, zur Fluggesellschaft Aerolinas Argentinas, zu verschiedenen Hotels und Hostels. Nach wie vor sind die Informationen widersprüchlich. Eins ist klar: Die Provinz Misiones wird eine zweiwöchige Quarantäne ausrufen und Reisende sind dabei nicht vorgesehen. Wir bekommen keine neue Unterkunft, wo auch immer wir nachfragen. Angeblich gibt es von Rio de Janeiro oder von Sao Paolo aus noch Flüge nach Europa, aber die Grenze zu Brasilien wurde im Laufe des Tages auch geschlossen. Ein blanker Hohn sind die Antworten der deutschen Auslandsvertretungen: Das deutsche Konsulat in Posadas hat nur eine Dame am Telefon, die weder deutsch noch englisch spricht, dafür sehr schnell spanisch. Bruchstückhaft verstehen wir, dass sie auch nichts weiß. Die deutsche Botschaft in Buenos Aires speist uns mit einer nichtssagenden Email ab. In keinem Wort wird auf unser Problem eingegangen, dass wir binnen Kürze obdachlos sein werden.

Gute Nachricht: Wir haben vielleicht – hoffentlich! ab morgen eine Unterkunft über AirBnB.

Reisen macht unter diesen Umständen keinen Spaß. Wir haben kein Problem damit, eine Quarantäne abzusitzen. Doch wenn hier die Hamsterkäufe losgehen, sind wir bestimmt die letzten die etwas abbekommen. Wer nicht mal einen Kühlschrank hat, kann sich schlecht versorgen bei 40 Grad.

Auf dem Weg nach Iguacu

Das goldene Morgenlicht streift über die Baumwipfel. Die Landschaft ist hügelig und in den Senken liegt an manchen Stellen noch ein leichter Schleier von Morgennebel. Schnurgerade zieht sich die Straße in einer breiten Schneise durch den Wald. Von einem zum anderen Horizont erscheinen Farbverläufe von verschiedenen Grüntönen. Die Erde ist tiefrot. Als die Sonne etwas höher steigt, erkenne ich: Es sind Flecken von Urwald, die stehen geblieben sind zwischen Baumplantagen, Weideland, Sojafeldern und entlang der Straße entlang ziehenden Siedlungen. San Ignacio, Aristobalde del Valle und Eldorado heißen die Dörfer im Bundesstaat Misiones. Häuser und Nebenstraßen machen auf mich einen pionierhaften Eindruck, auch wenn die Gegend zweifellos schon länger erschlossen ist. Viele Holzlaster, Tankwägen und Pickups sind auf der Straße unterwegs. Gern würde ich nachlesen, was ich mangels Netz auf später verschiebe. Mein Telefon teilt mir mit, dass es sich mittlerweile sowohl im uruguaischen als auch im brasilianischen und paraguaischen Netz einloggen wollte, ich soll doch noch die entsprechenden Roamingpakete kaufen. Wir befinden uns im letzten nordöstlichen Zipfel Argentiniens, der sich zwischen Paraguay und Brasilien wie ein Finger hochreckt. Über die Nacht gibt es nicht viel zu berichten, die Mitreisenden haben kaum geschnarcht, der Schaffner kam nur ein paar Mal um eine Haltestelle auszurufen und die Toilette ist jetzt kein angenehmer Ort.

Angesichts der schier endlosen Plantagen von Eukalyptusbäumen und Pinien vermute ich Übles und lese nach: Unter uns im Boden liegt der Acuifero Guarani, eines der größten Grundwasservorkommen weltweit. Dieser ist so groß wie Frankreich, Spanien und Portugal zusammen! Wie nicht anders zu erwarten, ist dieser unterirdische Schatz aktuell sehr gefährdet. Wie so viele Sauereien von der Weltbank finanziert, wurden Tiefbrunnen gebohrt und Wasserrechte privatisiert. Die Nutzungsrechte haben sich internationale Konzerne unter den Nagel gerissen. Warum hat man hier im Urwald Flächen gerodet?  Die schnellwachsenden Bäume versorgen die Papierindustrie in Europa und Japan mit Unmengen an Zellulose. Im tropischen Klima der Länder Brasilien, Uruguay, Paraguay und Argentinien wächst auf den riesigen Sojafeldern das Futter für die deutsche Massentierhaltung kostengünstig und schnell. Dass dabei der Lebensraum der Ureinwohner und einer einzigartigen Tier-und Pflanzenwelt zerstört sowie Jahrhunderttausende alte Wasserreserven angezapft werden, wird wissend in Kauf genommen, ebenso wie die Tatsache, dass die Pestizide aus der Sojakultur gleichzeitig die Grundwasserreserven zu vergiften drohen.

In Puerto Iguazu gerät unser Empfang am Busbahnhof zunächst recht ruppig: Eine extrem dicke (oder schwangere?) Angestellte pfeift uns energisch zurück, weil wir den Bahnhof einfach so quer über die Busfahrspur verlassen wollen. So geht das nicht! Erstmal die Treppe hoch, hopp, hopp! Das ist nämlich der offizielle Ausgang. Ob sie dabei aus Sorge um unsere körperliche Unversehrtheit handelte? Mein Verdacht ist eher, dass es ihr vielmehr darum ging, uns in Richtung der Buden zu lotsen, wo die touristischen Tagestouren und Andenken verkauft werden.

Eine kabarettreife Steigerung bietet sich anschließend im österlich geschmückten Café gegenüber dar. Nach fast 13 Stunden Busfahrt finden wir, wir haben uns einen Kaffee verdient und betreten hoffnungsvoll das Lokal. Ich sichere sogleich mit dem Gepäck einen Tisch, von wo aus ich den weiteren dramatisch-komischen Verlauf der Bestellung beobachte. Es beginnt mit dem Kampf um die Karte. Mehrere potentielle Kunden ringen um das Menü, alle haben sie es unterlassen, zuvor an einem entsprechenden Spender eine Nummer zu ziehen. Als schließlich meine Mädels eine Karte erhascht haben, gelingt es ihnen kurz später auch, einer der Bedienungen habhaft zu werden, die sich prompt anschickt, einen komplizierten und umfangreichen Bestellzettel auszufüllen. Heiliger Bürokratius, Schutzherr der Amtsstuben und Stempelkissenschläfer! Ein paar hilflose Blicke später stellt man sich an der einen oder anderen Ausgabe am Tresen an, nichts passiert, dann fällt der Blick auf eine Kasse… ah ja: Die junge Frau mit der Weihnachtsmütze nimmt den Zettel und das Geld, nein, sogar die Kreditkarte. Sie schreibt einen neuen Coupon aus, eine neue Odyssee beginnt am Ausgabetresen. Da! Wieder taucht eine bemützte junge Frau auf und reißt mit ein paar barschen, unverständlichen Worten einen kleinen Abschnitt des Coupons ab. Verwirrt setzt sich der weibliche Teil meiner Familie zu mir. Wir erwägen schon zu gehen, da kommt auch schon (eine gefühlte Ewigkeit später) unsere Bestellung quasi von selbst an den Tisch: Der Cappucchino trägt ein Gebirge aus Sahne mit einer roten Kirsche, dass man direkt vom Anschauen Völlegefühle bekommt; das Croissant ist gefüllt mit einer halbflüssigen Caramellcreme, die jeden deutschen Zahnarzt in Ekstase versetzen würde. Allein mein Café Cortado ist lecker, wenn auch viel zu klein. Noch einen bestellen? Lieber nicht.

Auch wir befinden uns im coranabedingten Ausnahmezustand – gesund, aber abgeklemmt im Urwald Nordargentiniens. Bald gibt es ein Update.

Entre Rios

Rosario

Die nationale Hauptstadt des Helado argentino, des argentinischen Speiseeises heißt Rosario. Das Eis schmeckt tatsächlich sehr lecker hier, kein Wunder bei 35° im Schatten. Ich ziehe trotzdem das hervorragende cerveza artesanal (Craftbeer) vor. Che Guevara, der sympathische Massenmörder, Revolutionär, Guerillakämpfer und Buchautor wurde hier im Jahre 1928 geboren. Leider haben wir weder sein Geburtshaus noch sein Denkmal gesehen, denn die Stadt ist zu Fuß nicht zu bewältigen. Fahrräder konnten wir uns keine ausleihen und auch die Benutzung der Stadtbusse wollte uns nicht gelingen. Taxis sind sehr teuer und Remises schwer zu bestellen. Gegen den Kontrollzwang von Behörden, Bank- und Verwaltungsangestellten kommen wir mitunter kaum an. Zum Bezahlen mit Kreditkarte oder um am Bike-sharing teilzunehmen braucht man stets ein Ausweisdokument, auf Onlineformularen und Chipkartenlesegeräten sollen wir ständig unsere Passnummern eintippen. Natürlich wissen wir diese inzwischen längst auswendig, was uns aber nichts hilft. Irrwitzig ist nämlich, dass die deutsche Kombination aus Buchstaben und Zahlen nicht vorgesehen ist, also lassen wir manchmal einfach die Buchstaben weg. Wenn das nicht funktioniert, müssen wir gezwungenermaßen bar bezahlen oder auf das Angebot verzichten. Bar zahlen wir sehr ungern, denn am Geldautomaten können wir kaum mehr als 2000 Pesos, etwa 28 € abheben. Dafür wird dann eine unverschämte Gebühr von bis zu 600 Pesos abgebucht, rund acht €. Ob sich mit diesem Geld das marode Bankwesen bereichert? Für soziale Zwecke jedenfalls wird es wohl nicht investiert, die Straßen sind voller armer Leute.

Rosario liegt am Rio Parana. Rund 350 Kilometer vor seiner Mündung ist er immer noch tief genug für riesige Ozeandampfer. Der Nationalheld Manuel Belgrano hisste an seinem Ufer im Jahre 1812 erstmals die argentinische Nationalflagge, ein gigantomanisches Flaggenheiligtum soll daran erinnern. Zum Schwimmen eignet sich der Parana leider weniger. La Florida soll der schönste Strand der Stadt sein – ich habe in meinem ganzen Leben noch keinen hässlicheren gesehen. Wir sitzen eingezwängt auf einem vertrockneten Stückchen Rasen. Dicht neben uns lärmt eine Horde Kinder, das rostige Schaukelgestell quietscht misstönend und bildet eine interessante Klangcollage zusammen mit dem ohrenbetäubenden Bass der Outdoordisco. Eben hat ein Paar im Rentenalter auf der anderen Seite Platz genommen; unbeeindruckt vom Lärm packen sie Klappstühle und Kühltaschen aus. Wahrscheinlich sind sie beide taub. Wir beschließen, uns im Fluss abzukühlen, doch zuvor müssen wir auf dem glühend heißen Sand im Zickzack um hunderttausend Schirme sprinten. Angenehm kühl ist das Wasser mit der Farbe von Milchkaffee, man meint es zischen zu hören, als wir eintauchen. Der feinkörnige Schlamm am Grund saugt förmlich an unseren Füßen. Vorwitzig tauche ich unter der massiven Bojenkette hindurch, um ins tiefere Wasser zu gelangen – doch das ist nicht gestattet. Sobald mein Kopf wieder auftaucht, pfeift mich der Rettungsschwimmer auf seinem Turm warnend aus. Wehe! Hier ist das Wasser schon hüfttief, also lebensgefährlich.

Nachdem wir unsere Pässe viermal vorgezeigt haben, sitzen wir endlich wieder im Bus. Unser Weg führt heute weiter nach Colon, wo wir den Nationalpark El Palmar besuchen wollen. Die Autobahn verläuft zunächst auf einem hohen Damm zwischen Flüssen, Seen und Sumpfgebieten. Entre Rios heißt die Gegend, also zwischen den Flüssen. Tatsächlich fahren wir etwa 300 Kilometer vom Rio Parana zum Rio Uruguay, der die Grenze zum Nachbarland darstellt. Wo die Feuchtgebiete trockengelegt wurden, erstrecken sich riesige Weideflächen und Getreidefelder bis zum Horizont. Vor allem Rinder, ein paar Schafe sind zu sehen; Reis, Mais, Weizen und Unmengen an Soja werden angebaut.

Colon begrüßt uns mit einer feinen Patina aus Staub. Häuser, Autos, Pflanzen, Straßenhunde und bald auch wir sind von Staub bedeckt. Genauso wie die Landschaft rundherum ist alles knochentrocken und staubig. Nur die wichtigsten Straßen sind hier asphaltiert, alle anderen bestehen aus Staub. Jedes Fahrzeug zieht eine gigantische Schleppe aus Staub hinter sich her. Nur am Ufer des Rio Uruguay gibt es einen schmalen Streifen aus feuchtem Staub, dahinter beginnt der Strom. Fast zweieinhalb Kilometer ist er hier breit, man kann hinübersehen nach Uruguay.

Eins ist sicher: Colon ist kein besonders bekanntes touristisches Ziel, vielmehr „off the beaten track“. Umso besser. Dank unserer Tochter haben wir dieses Juwel Argentiniens entdecken dürfen, denn sie hat sich dieses Eck ausgesucht. Im Nationalpark sind wir fast allein mit den Wasserschweinen, Adlern und Schmetterlingen. Die sympathischen Capivaras stehen in Gruppen mitten in schlammigen Tümpeln, bei ihren Hinterteilen steigen immer wieder viele Bläschen auf. Gänzlich entspannt und ohne jede Hemmung furzen sie, sie haben kein Problem damit. Mit dem Remis, einer Art Privattaxi haben wir uns hin und zurück fahren lassen. Ein absolutes Highlight war das Baden am menschenleeren Strand des Rio Uruguay: Wenn auch das Wasser nicht perfekt blau und klar ist, der Strand ist einsam mitten in der hitzeflirrenden Natur des Nationalparks.

An den Wechselkursen beobachten wir, dass der argentinische Peso praktisch täglich abgewertet wird. In den paar Tagen seit wir Buenos Aires verlassen haben, ist der Euro von knapp 70 auf nunmehr 84 Pesos gestiegen. Für die argentinische Wirtschaft ist das schlimm, für uns dagegen gut. Wir müssen schauen, dass wir zwar stets über einen kleinen Vorrat Pesos verfügen, dieser aber bloß nicht zu groß, weil sonst rasch wertlos wird. Währenddessen ist der Niedergang der hiesigen Wirtschaft nicht zu übersehen. Viele Häuser und Geschäftsräume sowie Grundstücke stehen zum Verkauf. Besonders kleine und mittlere Unternehmen überstehen den neoliberalen Wirtschaftskurs der Regierung nicht. In einem Artikel lese ich über die „empresas recuperadas“, nach Insolvenz von den Mitarbeitern besetzte und in eigener Regie weitergeführte Betriebe. Es ist zwar nicht die Regel, dass so etwas passiert, aber die Zahl solcher Ereignisse steigt an. Radiosender, Schulen, Kliniken und Fabriken werden von (Mit-)Arbeiterräten übernommen. Ein Zukunftsmodell?  Mit wachsender Verunsicherung und aufkeimender Sorge verfolgen wir auch die Nachrichten über die Corona-Pandemie. Unsere Familie daheim ist noch nicht betroffen, hoffentlich bleibt das so. Werden wir unsere Reise wie geplant fortsetzen können, wenn nach und nach die Ländergrenzen geschlossen werden? Wird unsere Tochter planmäßig nach Deutschland zurückkehren oder ist es besser, wenn sie lieber länger bei uns hier in Südamerika bleibt? Aber es ist sinnlos, sich Sorgen zu machen, also verbringen wir unseren letzten Tag mit unserem zugelaufenen Teilzeithund Perrito faul am Strand des Rio Uruguay.

Buenos Aires

„Va a Avenida Mexiko?“, frage ich den Busfahrer in meinem glockenklaren Spanisch. Seine Antwort ist ein langgezogener Krächzlaut, aber irgendwie scheint die Vokabel Mexiko auch darin vorzukommen. Hätte ich doch eins der Mädels fragen lassen! Meine Frau und meine Tochter haben diese Sprache schließlich gelernt. Wir steigen ein. Schließlich hat mir doch meine satellitengestützte Navigationsapp glaubhaft versichert, wir müssten in den 60er Bus einsteigen. Ferner, dass der fragliche Bus einmal pro Minute fahren würde. Ha! Dass ich nicht lache. Die ersten fünf Busse mit der entspechenden Nummer lassen sich erstmal gar nicht herab, für uns anzuhalten. Dann lange nichts, es fahren alle anderen, nur kein 60er. Und jetzt der arme Mann mit dem Halsproblem. Ob er wohl Corona hat? Der Virus , der halb Europa lahmlegt, ist längst auch hier angekommen. Nein, wir sind uns einig, er hat mich nur verbessert: „Calle Mexiko“, nur spricht man das halt nicht wie spanisch [ˈka.ʝe] aus, sondern eher wie ein gekrächztes, gleichzeitig weiches, verschwurbeltes [ˈkak.se]. Denn unsere Straße ist eine Calle, keine Avenida. Hätte ich ja wissen müssen. Der Gute ist definitiv nicht krank, sondern vielmehr sehr fit und freundlich. Knapp eine Stunde und rund 40 Haltestellen später im dichtesten Berufsverkehr und bei komplett vollem Bus dreht er sich um und macht uns darauf aufmerksam, dass wir jetzt aussteigen müssen.

Seit ein paar Tagen schon halten wir uns in Buenos Aires auf. Die Stadt hat einen wunderbaren Charme und ist voller Gegensätze: Jung, lebendig und leidenschaftlich wie der Tango, der hier geliebt und gelebt wird; alt-ehrwürdig getragen und voller Prunk sowie gleichzeitig arm, geflickschustert und improvisiert. Eine gewisse Melancholie ist zu spüren, denn die Reichtümer dieses schönen Landes werden so gar nicht gerecht verteilt und genutzt. Für uns ist Buenos Aires ganz etwas besonderes, denn unsere Tochter ist hierher gekommen, um uns zu besuchen. Gemeinsam wollen wir die nächsten Wochen Argentinien, Uruguay und vielleicht Brasilien bereisen.

Die japanischen Gärten im noblen Stadtteil Palermo haben uns sehr gefallen, aber der ehemalige Zoo fast noch besser. Dem privaten Betreiber wurde vor ein paar Jahren die Konzession entzogen, nun wird das Gelände in einen EcoParque umgewandelt. Ein paar Tiere gibt es noch, die überwiegend frei  zwischen und durch die Gehege herumstreifen. Besonders hat es uns der Reha angetan. Für uns sieht es aus wie eine Mischung aus Reh und Hase, deshalb Reha. Später stellt sich heraus, dass die Maras oder Großen Pampashasen in die Ordnung der Meerschweinchen gehören.

Auf einer Walking-Tour wandern wir durch das Hafenviertel La Boca. Einst war es eine Gegend, wo die Armen lebten; heute wandelt es sich langsam zum In-Viertel. Die Randgebiete des Barrios sollte man jedoch nur mit Vorsicht und keinesfalls alleine oder nachts betreten. Im touristischen Kerngebiet Caminito dagegen drängeln sich Touristen aus aller Welt. Auf der Straße stehen überall unübersehbar Figuren berühmter Personen herum: Vor allem x-fach der Fußballspieler Diego Maradona, der aus diesem Viertel stammte. Man glaubt es kaum, allein im fußballbegeisterten Buenos Aires gibt es sechs Maradona-Kirchen: Insbesondere zum Heiraten sind diese beliebt. Die Besonderheit dabei ist, dass Jesus dort die Züge des Fußballers trägt, die Madonna die seiner Mutter. Mehrfach begegnet uns Papst Franziskus, der Bischof der Stadt war und ein besonderes Herz für die Armen hat, ebenso wie Evita Peron, die früh verstorbene Gattin des Präsidenten. Noch heute ist sie bei vielen Leuten beliebt und wird verehrt. Überhaupt haben die Argentinier ein großes Herz und viel für Verehrung übrig, so gibt es mehrere inoffizielle wundertätige Heilige, Gauchito Gil etwa, eine Art Landarbeiter-Robin Hood, für den man überall im Land Schreine errichtet.

Abends bereiten wir im Hostel mit Luis und Sebastian aus Kolumbien, Nigel aus Schottland und Ben aus Straubing Arepas zu. Die Bewohner sowohl Kolumbiens als auch Venezuelas beanspruchen die Teigtaschen aus Maismehl als jeweiliges Nationalgericht. Angeblich ließen sich schon die kannibalischen Kariben Arepas mit Menschenhack schmecken. Wir können den Streit auch nicht klären, belassen es heute aber bei der rein vegetarischen Variante.

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Ushuaia, Tierra del Fuego und das Ende der Welt

Fin del mundo, Ende der Welt heißt die Gegend. Dort liegt ein 630 Quadratkilometer großer Nationalpark, der die südlichsten Urwälder unseres Planeten beherbergt. Heute habe ich ein kleines Nickerchen gehalten auf der Wiese vor dem See. So lieblich und angenehm war das Wetter, wer hätte das gedacht? Knappe 960 km sind es von hier noch bis zur Antarktis. Dennoch ist die Landschaft einladend: Wälder aus südlichen Buchen und rhododendronartigen Sträuchern säumen den Weg, die Strände des Südpolarmeeres sind wild und der Kies besteht aus schieferartigem Bruchgestein gemischt mit Muschelschalen. Im Wasser schwappt der Kelp mit jeder Welle hin uns her, in der Ferne leuchten die Schneehauben der Berge. Leider ist der Weg entlang der Küste ziemlich feucht und viele Matschlöcher halten uns auf, die im dichten Unterholz kaum zu umgehen sind. Für die rund acht Kilometer brauchen wir dann tatsächlich auch fast vier Stunden. Die krüppeligen Buchen sehen allesamt aus wie Baumbarts kleine Brüder im Fangornwald. Flechten gibt es hier auch, teils auch riesige mistelartige Aufsitzerpflanzen. Große Gallen sitzen an jedem dritten Stamm oder Ast, die Bäume sind gewiss vielfältigen Belastungen durch Klima, Wind, Trockenheit ausgesetzt. Wir sind es auch, das ewige Auf und Ab entlang des Küstenpfades zehrt an den Kräften. Die Ausblicke aufs wild schäumende Meer entschädigen jedoch für die Strapazen.

Unsere Zimmernachbarn, ein Paar aus Oregon sind gerade von einer Antarktiskreuzfahrt zurück. Sie berichten, dass sie bei den Landgängen auf dem Kontinent des Südpols ihre dicken Überlebensanzüge Schicht für Schicht ausgezogen haben, weil es viel wärmer war als erwartet und angekündigt.

Wir buchen einen Halbtagesausflug per Schiff auf dem Beagle-Kanal. Die Anbindung des gesamten pazifischen Raumes von der Westküste Nord- und Südamerikas über Australien und die Südsee an die europäischen Mutterländer lief vor dem Bau des Panamakanals über die Südspitze Südamerikas. Der Beaglekanal – eigentlich eine Meerenge oder ein Fjord, kein Kanal – war die bevorzugte Passage für alle Segelschiffe, die die Umrundung des berüchtigten Kap Hoorn vermeiden wollten. Später, als die Schiffe mit Dampf und schließlich mit Dieselmotoren auch gegen den Wind navigierten, fuhr man bevorzugt durch die Magellanstraße ein paar Hundert Kilometer weiter nördlich. Je weiter südlich, umso brutaler herrschten Wind und Strömung.

Wir lernen weitere Einzelheiten über die Ureinwohner Feuerlands. Diese Menschen besiedelten die unwirtlichen Gebiete seit Jahrtausenden friedlich und lebten als Sammler und Jäger von Robbenfleisch, Muscheln und Wurzeln. Mit den neuzeitlichen Entdeckern kamen vor allem Krankheiten und Alkohol, mit beiden konnten die Yamanas, Selk’nam, Haush und die anderen Stämme nicht umgehen. Später ließen die Großgrundbesitzern die Indianer systematisch durch Kopfgeldjäger töten oder vergiften. Von etwa 3000, die hier zur Zeit der Ankunft der ersten Europäer lebten, blieben zehn Jahre (1890) später noch 1000. Bis 1910 waren es nur noch 100. Heute huldigen den Indianern Wandgemälde.

Argentinien

Wir waren zwar schon ein paar Tage in Argentinien, aber das war nur ein kurzer Ausflug über die Grenze nach Calafate, um den Nationalpark Los Glaciares zu besuchen. Heute fahren wir richtig über die Grenze nach dem argentinischen Teil von Feuerland in die südlichste Stadt der Welt, Ushuaia. Darum jetzt meine Kurzinformation über das Land Argentinien, wer sich nicht dafür interessiert, kann diese gern überspringen. Ich jedenfalls finde es immer ganz passend, ein wenig über das  Land Bescheid zu wissen, das ich gerade bereise. Während draußen eine sehr eintönige, flache aber nichtsdestoweniger schöne Grassteppe vorbeizieht, fasse ich das Wichtigste zusammen:

Argentinien ist der achtgrößte Staat der Erde und der zweitgrößte Südamerikas. Wegen seiner riesigen Ausdehnung (fast 3700 Kilometer von Nord nach Süd) und vielfältigen Höhenlagen hat das Land Anteil an mehreren Klima- und Vegetationszonen. Der Landesname ist eine Ableitung aus dem lateinischen Wort für Silber – argentum – und stammt aus der spanischen Kolonialzeit. Bis zu seiner Unabhängigkeit 1816 war das Land Teil des spanischen Kolonialreiches. Mit rund 44 Millionen Einwohnern steht Argentinien in Südamerika an dritter (nach Brasilien und Kolumbien) und in ganz Amerika an fünfter Stelle. Etwa ein Drittel davon lebt im Ballungsraum der Hauptstadt Buenos Aires, die als bedeutendes Kulturzentrum Amerikas gilt. Hier hat unter anderem der Tango Argentino seinen Ursprung. Weitere Ballungszentren bilden die Städte Córdoba, Rosario, Mar del Plata und Mendoza. Große Teile des trockenen und kalten Südens sind nur sehr dünn besiedelt.

Bis etwa 1950 war Argentinien eines der reichsten Länder der Erde. Wirtschaftlich spielten traditionell die Landwirtschaft, Viehzucht und der Rohstoffabbau eine große Rolle, wenn auch heute der Dienstleistungssektor mit rund 60 % den größten Anteil am BIP ausmacht. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts war das Land stark durch die Einwanderung aus Europa geprägt, vor allem aus Italien und Spanien. Die wichtigsten politischen Etappen seitdem sind der Peronismus (1946–1955; 1973–1976), mehrere Militärdiktaturen (insbes. 1976–1983), die Redemokratisierung (nach 1983) und der Neoliberalismus (1990er Jahre) bis zur Argentinien-Krise 2001 und der darauf folgenden Konsolidierung sowie die erneute Rezession. Augenblicklich wird angesichts der extremen Staatsverschuldung und Inflation ein Schuldenschnitt diskutiert.

Der gesamte Westen wird von den Anden eingenommen, der längsten kontinentalen Gebirgskette der Erde. Der zentrale Norden Argentiniens ist der Gran Chaco, eine heiße Trockensavanne. Östlich davon schließt sich entlang des Río Paraná das Hügelland der Provinz Misiones an. Dort befinden sich am Dreiländereck Argentinien–Paraguay–Brasilien die Iguazú-Wasserfälle; sie sind etwa 2,7 Kilometer breit und zählen zu den größten der Erde. Südlich davon, zwischen den großen Strömen Río Paraná und Río Uruguay, liegt das feuchte und sumpfige Mesopotamia. Am Río de la Plata, dem gemeinsamen Mündungsgebiet dieser beiden Ströme, liegen die Stadt Buenos Aires und die gleichnamige Provinz, das wirtschaftliche Herz Argentiniens. Westlich und südlich von Buenos Aires erstrecken sich die Pampas, eine grasbewachsene Ebene, wo der größte Teil der Agrarprodukte des Landes erzeugt wird. In dieser Region befinden sich große Weizenfelder und Weideflächen für Rinder; die Ausfuhr von Rindfleisch brach ab 2005 als Folge von Exportbeschränkungen und -verboten der Regierung von 771.000 Tonnen auf 190.000 Tonnen ein. 2017 gingen wieder 308.638 Tonnen Rindfleisch in den Export. Zwischen den Pampas und den Anden liegen im zentralen Argentinien die Gebirgszüge der Sierras Pampeanas. Das im Süden Argentiniens gelegene Patagonien ist von starken Westwinden geprägt und hat ein sehr raues Klima. Die höchsten Berge des Landes liegen in den Anden: der Aconcagua mit 6961 m Höhe und die beiden höchsten Vulkane der Erde, der Ojos del Salado mit 6880 m und der Monte Pissis mit 6795 m. Argentinien hat trotz seiner lang gestreckten Küstenlinie nur wenige Inseln. Die größte ist die zum Archipel Feuerland gehörende Isla Grande de Tierra del Fuego mit 47.020 km², die sich Argentinien (Provinz Tierra del Fuego, 21.571 km²) und Chile (25.429 km²) teilen. Völkerrechtlich umstrittenes Territorium sind die Falklandinseln (spanisch Islas Malvinas), eine Inselgruppe im südlichen Atlantik. Sie gehören geographisch zu Südamerika, liegen 600 bis 800 km östlich von Südargentinien und Feuerland und sind britisches Überseegebiet. Seit 1833 werden sie von Argentinien beansprucht. Die Besetzung der Inseln durch Argentinien am 2. April 1982 löste den Falklandkrieg aus, der bis zum 14. Juni 1982 dauerte und mit einer Niederlage für Argentinien endete.

Etwa 90 Prozent der Bevölkerung stammen nach der offiziellen Statistik von eingewanderten Europäern ab, hiervon 36 % von Italienern, 29 % von Spaniern und 3 bis 4 % von Deutschen. Nur eine Minderheit der Argentinier sind ausschließlich Nachkommen der insgesamt 30 Ethnien, die vor dem Eintreffen der Spanier auf dem Landesterritorium lebten. Die soziale Situation des Landes ist in mehrerlei Hinsicht durch eine starke Ungleichheit gekennzeichnet. So gibt es einerseits wie in ganz Lateinamerika ein großes Wohlstandsgefälle zwischen Ober- und Unterklasse, andererseits gibt es große regionale Unterschiede. Rund um die Hauptstadt ist die Einkommenssituation am besten, im Nordosten am schlechtesten. In Folge der Krise und Rezession leben rund 40% der Menschen unterhalb der Armutsgrenze.

Die Fahrt findet schon rasch eine Unterbrechung: In Punta Delgada ergibt sich ausgiebig die Gelegenheit, chilenische Fährleute beim Rangieren ihrer Schiffe zu studieren. Mit offener Bugklappe fährt das riesige Schiff an den Anleger, der nichts weiter darstellt als eine Betonrampe in die eisigen Wellen der Magellanstraße. Offenbar hat man hier noch nie was von der Katastrophe der Estonia gehört? Warum unser Bus nicht mit der ersten und auch nicht mit der zweiten Fähre mitfährt, erschließt sich dem uneingeweihten Fahrgast nicht. Wir stehen stundenlang im Wind, der hier in Orkanstärke blast. Mir reißt der Sturm den Reißverschluss an einem Hosenbein vom Oberschenkel bis zur Ferse auf. Fähren kommen, Fähren legen ab. Wir beobachten, wie Tanklastzüge und riesige Lastwägen Anhängern voller Schafe von Bord rollen. An dem Knick, wo die stählerne Rampe der Fähre auf der betonierten Schräge des Anlegers schrappt, setzen sie regelmäßig mit dem Heck auf, während sich das Schiff mit vollem Einsatz der Seitenstrahl-Ruderanlage mühsam auf der Stelle hält. Endlich, bei der vierten oder fünften Fähre dürfen wir an Bord gehen, es ist die schäbigste von allen, die wir hier gesehen haben. Vielleicht hat die Busfirma ein Abo bei eben dieser Fährgesellschaft? Wir werden gleich in ein enges Kabuff neben dem Frachtraum gelotst. Die Überfahrt ist eher langweilig, denn außer den zum Teil recht heftigen Bewegungen des Schiffrumpfes bekommt man nichts mit. Dass das Seewasser über die haushohen seitlichen Aufbauten der Fähre hinweggespritzt hat bis an die Busfenster erkennen wir an den Salzkrusten auf den Fensterscheiben. Als wir in Feuerland anlegen, ist das erste,  was ich durch die – wiederum offene – Bugklappe sehe, ein riesiges Wandgemälde an einer Mauer: Mapuchegesichter. In letzter Zeit hat es bei den Nachkommen der Ureinwohner eine Rückbesinnung auf alte Traditionen gegeben und ein gewisser Stolz auf die Herkunft ist aufgekommen. Der Fähranlegeplatz ist weniger als ein Fleck auf der Landkarte: Ein paar Häuser, eine Cafeteria, ein Campingplatz. Die letzten knapp 200 Kilometer auf chilenischem Boden fahren wir nun auf der Insel Feuerland. Hier scheint es die Guanakos in größerer Zahl zu geben als auf dem Festland, man sieht sie viel öfter neben der Straße. In den kleinen Salzlagunen sehen wir immer wieder Gruppen rosafarbener Flamingos stehen. Sie verbringen hier den südlichen Sommer, im Winter werden sie wieder nach Norden in die Atacama- und Uyuniwüste ziehen, stets auf der Suche nach ihrer Haupt- und Lieblingsnahrung, winzigen roten Salzkrebslein, die ihnen auch zu ihrer Farbe verhelfen. Der Grenzübertritt nach Argentinien wird mit peinlicher Bürokratie bewältigt, allein die Beamten der beiden südamerikanischen Länder Chile und Argentinien haben bei mir mehr als zwei Seiten des Passes vollgestempelt. Zum Glück müssen wir nicht mehr nach Chile zurück, die Zöllner dort sind mit dem Gepäck extrem pingelig und durchsuchen alles ganz genau. Der Argentinier dagegen ist da schon eher lässig; hier sind auch die Straßen erstmal nicht geteert und es fehlen die in Chile unvermeidlichen Zäune entlang der Straße. Dafür stehen jetzt mehr Rinder als Schafe in der Landschaft herum. Bald schon sehen wir wieder das Meer. Seit über drei Monaten haben wir uns im und am Pazifik herumgetrieben, ab jetzt ist es der Atlantik.

An Rio Grande beginnt auch wieder die Zivilisation: große Zweckbauten, Ladekais, Autoschrottplätze und Fabriken säumen die Landstraße. Die Landschaft wird immer hügeliger, dann richtig bergig. Der Bus folgt der engen Straße, die sich steil den Hang hinauf Richtung Paso Garibaldi windet. Tief unter uns im Tal mäandert ein Fluß, der Rio Olivia in vielen Kurven dahin. Seine Ufer und Kiesflächen sind voller abgestorbener Bäume. Wir haben gelesen, dass hier Biber ausgesetzt wurden, um das Spektrum des jagbaren Wildes zu erweitern. Leider passen die Dammbauer gar nicht in das hiesige Ökosystem. Sobald sie wie gewohnt Bachläufe und Flüsse aufstauen, sterben die südlichen Urwälder ab, denn sie können die Feuchtigkeit nicht verkraften. Mit über zwei Stunden Verspätung treffen wir nach einer zwölfstündigen Busreise am späten Abend in Ushuaia ein, das Ende der Welt ist endlich erreicht. Es ist längst dunkel und ein Taxi gibt es auch nicht. Gut, dass wir den ganzen Tag im Bus gesessen sind – so macht uns der Marsch bergauf nicht viel aus. Irgendwann kommt doch ein Taxi daher, wir halten es an. Die Vorsichtsregel „Nie in ein Taxi einsteigen, das du nicht selbst per Telefon hergerufen hast!“ gilt doch in der südlichsten Stadt der Erde nicht, oder? Jedenfalls ist der Fahrer sehr nett, wir finden unser Hostel zunächst nicht und starren alle in unsere Handys. Als sich herausstellt, dass wir direkt davor stehen, müssen wir herzlich lachen. Die Herberge ist ein echter Glückstreffer: Nette Leute, ein gemütliches Haus.

Ushuaia, Gletscherpfad Luis Martial

Der Regen geht in Schnee über, der Schnee in Hagel. Zum Glück bläst der Wind nur in Sturmstärke, längst kein Orkan wie zuletzt im Torres del Paine. Rund 17 Kilometer wandern wir an diesem Tag stramm, in Ushuaia gibt es Gletscher schon auf gut tausend Meter über Meereshöhe. So schöne Berge hätten wir hier unten in Feuerland gar nicht erwartet. Ein grandioses Panorama öffnet sich vor und über uns, der Blick auf den Gletscher erfreut die Wanderer, frischer Neuschnee bedeckt bei weitem nicht nur die Gipfel, sondern auch die Hänge bis hinab zu der Stelle, wo wir uns gegen sen Schneesturm stemmen. Leider müssen wir den Weg zum Gletscher kurz vor dem Ziel abbrechen, obwohl er weder technisch noch konditionell besonders anspruchsvoll ist. Wir besitzen beide keine wasserdichten Hosen, ich keine Handschuhe. Schon bald sind wir klatschnass ab der Hüfte abwärts und die eisige Kälte beißt uns auch obenrum, denn die Jacken halten auch nicht dicht. So drehen wir um und gehen stattdessen den kurzen Abstecher zum Mirador (Aussichtspunkt) über Ushuaia. Der Ausblick ist wunderbar, in der Bucht vor der Stadt blinkt das Meer stellenweise wieder blau, sobald eine Lücke zwischen den Wolken die Sonne durchlässt. Der heftige Wind beginnt schon hier unsere nasse Kleidung trocken zu pusten, leider bringt das zusätzliche Kälte. Unten im Wald der Südbuchen wird der Wind leichter, die verdrehten kümmerlichen Bäume bieten einen guten Schutz. Wir wandern entlang eines munteren Bergbaches, der Weg ist schlammig, aber durch Knüppel und Stege passierbar. In der Stadt besorgen wir uns dann doch noch argentinische SIM-Karten für die Handys, ein neues T-Shirt für Andrea (mit Pinguinen!) und eine leckere Paella für uns beide. Beim Absacker in der Eckkneipe kommen Musikanten herein, um ein Spontankonzert zu geben. Mit Geige und Gitarre tragen die zwei ein paar Lieder vor, die uns und alle anderen Gäste begeistern. Ein schöner Tag!

27.02.2020, Ushuaia

Torres del Paine, Chile

Ein wenig ärgern wir uns, dass unsere Möglichkeiten in dieser grandiosen Landschaft doch recht eingeschränkt sind. Die Touren zu den schönsten Stellen im Park sind durchorganisiert von Anfang bis Ende. Ameisenstraßen von grellbunten Goretexträgern winden sich über den berühmten W-Trek und zum Basecamp der Torres. Ohne monatelange Vorbestellung bekommt man nicht mal einen Campingplatz. Einfache Hostels verlangen im Park Phantasiepreise ab 300€ pro Nacht. Den Nationalpark kann man zwar mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichen, aber das wars dann auch. Weiter von den wenigen Haltestellen geht’s dann nur zu Fuß oder per Anhalter. Doch auch die Busse zurück in die Zivilisation fahren schon recht zeitig.  Individuelle, weniger begangene Wanderwege erreicht man nur mit dem eigenen Auto beziehungsweise mit dem Mietwagen. Wir müssen wohl auf eine organisierte Bustour ausweichen, wenn wir noch etwas vom berühmten Torres-de-Paine-Nationalpark sehen wollen.

Die Tour entpuppt sich als Glückstreffer. Der junge Matias, unser Guide und Don Miguel, der Fahrer zeigen uns die Highlights des 2420 Quadratkilometer großen Nationalparks. Die Zahl der fußlahmen Mitfahrer in unserem Mitsubishi-Bus ist überschaubar, etwa 20 Leute sind es, überwiegend Chilenen. Alle sind wir begeistert von den überwältigenden Ausblicken. Unsere Berge daheim kommen mir im Vergleich dazu vor wie eine Spielzeugeisenbahnlandschaft. Kein Wunder, dass die Gipfel hier viel kolossaler wirken: Wir stehen auf 120 bis 160 Meter über Meereshöhe, da wirkt ein zweieinhalbtausend Meter hoher Berg extrem gigantisch. Die Torres del Paine sind Teil eines einzigartigen Bergmassivs: Fast senkrechte Felsnadeln zwischen 2600 und 2850 Meter Höhe werden begleitet von zwei gigantischen gletscherbedeckten Bergstöcken, dem Paine Grande und dem Almirante Nieto. Die hellen Granitflanken tragen Spitzen aus dunklem Konglomeratgestein. Paine bedeutet in der Sprache der Ureinwohner Tehuelqe blau: An 30 Tagen des Monats ist nämlich der Himmel bedeckt und die Berge haben dann eine dunkelblaue Farbe. Wir haben einen Tag mit wechselnder Bewölkung und ziemlich viel Sonne erwischt – fast ein Wunder!

Kondore, Guanakos und Pumas bevölkern den Park in relativ großer Zahl: Die Guanakos und Kondore sehen wir heute auch aus der Nähe, die Pumas leider nicht. Begegnungen mit den Raubkatzen sind jedoch gar nicht so unüblich. Miguel zeigt uns einen Video auf seinem Handy: Eine Pumamutter und ihre zwei drolligen Babys überqueren eine Straße direkt zwischen wartenden Autos.

Der Wind bläst uns am Lago Grey fast von den Füßen. Vor uns liegt der Strand des Sees, dahinter der Gletscher Grey. Das Wasser ist so aufgepeitscht, dass wir noch hundert Meter vom Ufer entfernt Gischt abbekommen. In deutlicher Schräglage kämpfen wir uns gegen den Orkan, bis wir die knallblauen Eisberge aus der Nähe sehen. Unterhalten kann man sich hier nicht, die Worte werden vom Sturm weggerissen, bevor sie das Ohr des andern erreichen. Kleine Sandkörnchen brennen wie Nadeln im Gesicht. Windgeschwindigkeiten von 100 Stundenkilometern sind ganz normal, der bisher gemessene Rekord war 207 Stundenkilometer. Nicht umsonst wird davor gewarnt, an gewissen Stellen im Park das Auto abzustellen. Immer wieder werden leichtere Pkw vom Wind davongeblasen.

Puerto Natales, 24.02.2020

Perito Moreno in Argentinien

Die Busfahrt ins nahegelegene Argentinien ist wieder eine einzige Schau. Die tiefstehende Sonne beleuchtet die Berge spektakulär, wieder sehen wir mehrere Kondore über den Gipfeln kreisen. Das Land ist so unglaublich weit. Solche Weite habe ich bisher nur in der Wüste oder am Meer erlebt. Doch hier ist es wieder ganz anders. Die langgestreckten Wolken unterstreichen die Weite noch, auf der riesigen Ebene ist nichts außer Grasbüscheln, Zäunen, ein paar Felsen und Sand. Immer wieder sind kleine Herden Guanakos zu sehen, ab und zu auch ein Nandu. Ein oder zweimal pro Stunde taucht eine Estancia naben der Straße auf; stets mit einem Windrad für die Wasserpumpe und ein paar Bäumen als Windschutz. Als wir aus der Hochebene ins Tal des Rio Santa Cruz herunter fahren, ist die Fernsicht überwältigend. Bis weit hinein in die Anden sind die Berge sichtbar, das sind etwa 200 Kilometer.

Doch schon kurz drauf sind wir angekommen in El Calafate, einer Kleinstadt mit riesiger Ausdehnung. An der hoch über der Stadt gelegenen Busstation gibt es auch keinen Geldautomaten. Wacker treten wir den Fußweg zu unserem Hostal an. Etwas anderes bleibt uns auch nicht übrig, denn wir haben kein argentinisches Geld und kein Internet, um einen Uber zu bestellen. Der Wind fegt uns beinahe davon. In Puerto Natales wurden wir schon gewarnt, dass man an gewissen Stellen sein Auto nicht abstellen sollte, immer wieder werden Pkws vom Wind umgeworfen und davongefegt. Unser Weg endet in einer Sackgasse, wir laufen zurück.

Auf dem anderen Weg endet der Asphalt nach ein paar hundert Metern und wir bauen unsere Trolleys zum Rucksack um. Im Kies leiden die Rollen sehr durch den Staub, so leiden nur unsere Bandscheiben und unsere Bindehäute. Die vorbei brausenden Pickups und Geländewägen wirbeln davon ausreichend Material in die Luft. Die Adresse, zu der uns unsere Offline-Satelliten-Navigationsapp leitet, erweist sich als vollkommen falsch. Wir landen an einem Campingplatz. Wer will bei nächtlichen Temperaturen um den Gefrierpunkt schon zelten? Der freundliche Wirt weist uns den Weg, nur verstehen tun wir nicht viel davon. Wir irren weiter über Schotterpfade, wieder tragen wir unsere Packen auf dem Rücken, bei mir verkrampft sich alles. Da vorn, ein Taxistand! Trotz aller Vorbehalte bin ich jetzt soweit, ein Taxi zu nehmen. Da stellt sich heraus, dass der Taxistand genau gegenüber von unserem Hotel ist. Nach dem Einchecken läuft es wie von selbst: Geldautomat (sauteuer!), Einkaufen, lecker Essen… ein Traum.

Perito Moreno Gletscher und Lago Argentino

Der Ausflug zum Gletscher ist der Hammer. Wir haben das bestmögliche Wetter erwischt, die Fernsicht und der wolkenlose Himmel sind überwältigend. Der Gletscher gehört zum großen patagonischen Inlandeisfeld zwischen Chile und Argentinien, nach der Antarktis das größte zusammenhängende eisbedeckte Gebiet auf der Südhalbkugel. Eine riesige Wand aus Eis erstreckt sich etwa fünf Kilometer breit in die südwestliche Flanke des Lago Argentina. Obwohl der See hier rund 160 Meter tief ist, ragt der Eispanzer noch bis zu 70 Meter über die Wasseroberfläche hinauf. Winzig kommen wir uns angesichts dieses Naturwunders vor.

Wir nehmen das Gletscherboot, um über den eisigen See bis kurz vor die Eiswand zu fahren. Durch den immensen Druck, der auf dem Eis lastet, kracht und knallt es alle paar Minuten. Wie riesige Zähne ragen die Eissäulen dicht gepackt nebeneinander auf, immer wieder brechen große Eisblöcke vom Gletscher ab. Mit lautem Getöse donnern sie ins Wasser, das Echo hallt mehrfach nach. Ich stelle mir unsere Stadtpfarrkirche daneben vor. Die Kirchturmspitze würde nicht mal über den Rand emporragen. Nach der Schiffstour wandern wir noch über die sehr gut ausgebauten Wege des Nationalparks um die Gletscherzunge herum. Zurück in der Stadt lernen wir beim Abendessen in der Pizzeria nicht nur eine chilenische, sondern außerdem eine französische und eine argentinische Familie kennen. Sehr unterhaltsam!