Das goldene Morgenlicht streift über die Baumwipfel. Die Landschaft ist hügelig und in den Senken liegt an manchen Stellen noch ein leichter Schleier von Morgennebel. Schnurgerade zieht sich die Straße in einer breiten Schneise durch den Wald. Von einem zum anderen Horizont erscheinen Farbverläufe von verschiedenen Grüntönen. Die Erde ist tiefrot. Als die Sonne etwas höher steigt, erkenne ich: Es sind Flecken von Urwald, die stehen geblieben sind zwischen Baumplantagen, Weideland, Sojafeldern und entlang der Straße entlang ziehenden Siedlungen. San Ignacio, Aristobalde del Valle und Eldorado heißen die Dörfer im Bundesstaat Misiones. Häuser und Nebenstraßen machen auf mich einen pionierhaften Eindruck, auch wenn die Gegend zweifellos schon länger erschlossen ist. Viele Holzlaster, Tankwägen und Pickups sind auf der Straße unterwegs. Gern würde ich nachlesen, was ich mangels Netz auf später verschiebe. Mein Telefon teilt mir mit, dass es sich mittlerweile sowohl im uruguaischen als auch im brasilianischen und paraguaischen Netz einloggen wollte, ich soll doch noch die entsprechenden Roamingpakete kaufen. Wir befinden uns im letzten nordöstlichen Zipfel Argentiniens, der sich zwischen Paraguay und Brasilien wie ein Finger hochreckt. Über die Nacht gibt es nicht viel zu berichten, die Mitreisenden haben kaum geschnarcht, der Schaffner kam nur ein paar Mal um eine Haltestelle auszurufen und die Toilette ist jetzt kein angenehmer Ort.
Angesichts der schier endlosen Plantagen von Eukalyptusbäumen und Pinien vermute ich Übles und lese nach: Unter uns im Boden liegt der Acuifero Guarani, eines der größten Grundwasservorkommen weltweit. Dieser ist so groß wie Frankreich, Spanien und Portugal zusammen! Wie nicht anders zu erwarten, ist dieser unterirdische Schatz aktuell sehr gefährdet. Wie so viele Sauereien von der Weltbank finanziert, wurden Tiefbrunnen gebohrt und Wasserrechte privatisiert. Die Nutzungsrechte haben sich internationale Konzerne unter den Nagel gerissen. Warum hat man hier im Urwald Flächen gerodet? Die schnellwachsenden Bäume versorgen die Papierindustrie in Europa und Japan mit Unmengen an Zellulose. Im tropischen Klima der Länder Brasilien, Uruguay, Paraguay und Argentinien wächst auf den riesigen Sojafeldern das Futter für die deutsche Massentierhaltung kostengünstig und schnell. Dass dabei der Lebensraum der Ureinwohner und einer einzigartigen Tier-und Pflanzenwelt zerstört sowie Jahrhunderttausende alte Wasserreserven angezapft werden, wird wissend in Kauf genommen, ebenso wie die Tatsache, dass die Pestizide aus der Sojakultur gleichzeitig die Grundwasserreserven zu vergiften drohen.
In Puerto Iguazu gerät unser Empfang am Busbahnhof zunächst recht ruppig: Eine extrem dicke (oder schwangere?) Angestellte pfeift uns energisch zurück, weil wir den Bahnhof einfach so quer über die Busfahrspur verlassen wollen. So geht das nicht! Erstmal die Treppe hoch, hopp, hopp! Das ist nämlich der offizielle Ausgang. Ob sie dabei aus Sorge um unsere körperliche Unversehrtheit handelte? Mein Verdacht ist eher, dass es ihr vielmehr darum ging, uns in Richtung der Buden zu lotsen, wo die touristischen Tagestouren und Andenken verkauft werden.
Eine kabarettreife Steigerung bietet sich anschließend im österlich geschmückten Café gegenüber dar. Nach fast 13 Stunden Busfahrt finden wir, wir haben uns einen Kaffee verdient und betreten hoffnungsvoll das Lokal. Ich sichere sogleich mit dem Gepäck einen Tisch, von wo aus ich den weiteren dramatisch-komischen Verlauf der Bestellung beobachte. Es beginnt mit dem Kampf um die Karte. Mehrere potentielle Kunden ringen um das Menü, alle haben sie es unterlassen, zuvor an einem entsprechenden Spender eine Nummer zu ziehen. Als schließlich meine Mädels eine Karte erhascht haben, gelingt es ihnen kurz später auch, einer der Bedienungen habhaft zu werden, die sich prompt anschickt, einen komplizierten und umfangreichen Bestellzettel auszufüllen. Heiliger Bürokratius, Schutzherr der Amtsstuben und Stempelkissenschläfer! Ein paar hilflose Blicke später stellt man sich an der einen oder anderen Ausgabe am Tresen an, nichts passiert, dann fällt der Blick auf eine Kasse… ah ja: Die junge Frau mit der Weihnachtsmütze nimmt den Zettel und das Geld, nein, sogar die Kreditkarte. Sie schreibt einen neuen Coupon aus, eine neue Odyssee beginnt am Ausgabetresen. Da! Wieder taucht eine bemützte junge Frau auf und reißt mit ein paar barschen, unverständlichen Worten einen kleinen Abschnitt des Coupons ab. Verwirrt setzt sich der weibliche Teil meiner Familie zu mir. Wir erwägen schon zu gehen, da kommt auch schon (eine gefühlte Ewigkeit später) unsere Bestellung quasi von selbst an den Tisch: Der Cappucchino trägt ein Gebirge aus Sahne mit einer roten Kirsche, dass man direkt vom Anschauen Völlegefühle bekommt; das Croissant ist gefüllt mit einer halbflüssigen Caramellcreme, die jeden deutschen Zahnarzt in Ekstase versetzen würde. Allein mein Café Cortado ist lecker, wenn auch viel zu klein. Noch einen bestellen? Lieber nicht.
Auch wir befinden uns im coranabedingten Ausnahmezustand – gesund, aber abgeklemmt im Urwald Nordargentiniens. Bald gibt es ein Update.