Rosario
Die nationale Hauptstadt des Helado argentino, des argentinischen Speiseeises heißt Rosario. Das Eis schmeckt tatsächlich sehr lecker hier, kein Wunder bei 35° im Schatten. Ich ziehe trotzdem das hervorragende cerveza artesanal (Craftbeer) vor. Che Guevara, der sympathische Massenmörder, Revolutionär, Guerillakämpfer und Buchautor wurde hier im Jahre 1928 geboren. Leider haben wir weder sein Geburtshaus noch sein Denkmal gesehen, denn die Stadt ist zu Fuß nicht zu bewältigen. Fahrräder konnten wir uns keine ausleihen und auch die Benutzung der Stadtbusse wollte uns nicht gelingen. Taxis sind sehr teuer und Remises schwer zu bestellen. Gegen den Kontrollzwang von Behörden, Bank- und Verwaltungsangestellten kommen wir mitunter kaum an. Zum Bezahlen mit Kreditkarte oder um am Bike-sharing teilzunehmen braucht man stets ein Ausweisdokument, auf Onlineformularen und Chipkartenlesegeräten sollen wir ständig unsere Passnummern eintippen. Natürlich wissen wir diese inzwischen längst auswendig, was uns aber nichts hilft. Irrwitzig ist nämlich, dass die deutsche Kombination aus Buchstaben und Zahlen nicht vorgesehen ist, also lassen wir manchmal einfach die Buchstaben weg. Wenn das nicht funktioniert, müssen wir gezwungenermaßen bar bezahlen oder auf das Angebot verzichten. Bar zahlen wir sehr ungern, denn am Geldautomaten können wir kaum mehr als 2000 Pesos, etwa 28 € abheben. Dafür wird dann eine unverschämte Gebühr von bis zu 600 Pesos abgebucht, rund acht €. Ob sich mit diesem Geld das marode Bankwesen bereichert? Für soziale Zwecke jedenfalls wird es wohl nicht investiert, die Straßen sind voller armer Leute.
Rosario liegt am Rio Parana. Rund 350 Kilometer vor seiner Mündung ist er immer noch tief genug für riesige Ozeandampfer. Der Nationalheld Manuel Belgrano hisste an seinem Ufer im Jahre 1812 erstmals die argentinische Nationalflagge, ein gigantomanisches Flaggenheiligtum soll daran erinnern. Zum Schwimmen eignet sich der Parana leider weniger. La Florida soll der schönste Strand der Stadt sein – ich habe in meinem ganzen Leben noch keinen hässlicheren gesehen. Wir sitzen eingezwängt auf einem vertrockneten Stückchen Rasen. Dicht neben uns lärmt eine Horde Kinder, das rostige Schaukelgestell quietscht misstönend und bildet eine interessante Klangcollage zusammen mit dem ohrenbetäubenden Bass der Outdoordisco. Eben hat ein Paar im Rentenalter auf der anderen Seite Platz genommen; unbeeindruckt vom Lärm packen sie Klappstühle und Kühltaschen aus. Wahrscheinlich sind sie beide taub. Wir beschließen, uns im Fluss abzukühlen, doch zuvor müssen wir auf dem glühend heißen Sand im Zickzack um hunderttausend Schirme sprinten. Angenehm kühl ist das Wasser mit der Farbe von Milchkaffee, man meint es zischen zu hören, als wir eintauchen. Der feinkörnige Schlamm am Grund saugt förmlich an unseren Füßen. Vorwitzig tauche ich unter der massiven Bojenkette hindurch, um ins tiefere Wasser zu gelangen – doch das ist nicht gestattet. Sobald mein Kopf wieder auftaucht, pfeift mich der Rettungsschwimmer auf seinem Turm warnend aus. Wehe! Hier ist das Wasser schon hüfttief, also lebensgefährlich.
Nachdem wir unsere Pässe viermal vorgezeigt haben, sitzen wir endlich wieder im Bus. Unser Weg führt heute weiter nach Colon, wo wir den Nationalpark El Palmar besuchen wollen. Die Autobahn verläuft zunächst auf einem hohen Damm zwischen Flüssen, Seen und Sumpfgebieten. Entre Rios heißt die Gegend, also zwischen den Flüssen. Tatsächlich fahren wir etwa 300 Kilometer vom Rio Parana zum Rio Uruguay, der die Grenze zum Nachbarland darstellt. Wo die Feuchtgebiete trockengelegt wurden, erstrecken sich riesige Weideflächen und Getreidefelder bis zum Horizont. Vor allem Rinder, ein paar Schafe sind zu sehen; Reis, Mais, Weizen und Unmengen an Soja werden angebaut.
Colon begrüßt uns mit einer feinen Patina aus Staub. Häuser, Autos, Pflanzen, Straßenhunde und bald auch wir sind von Staub bedeckt. Genauso wie die Landschaft rundherum ist alles knochentrocken und staubig. Nur die wichtigsten Straßen sind hier asphaltiert, alle anderen bestehen aus Staub. Jedes Fahrzeug zieht eine gigantische Schleppe aus Staub hinter sich her. Nur am Ufer des Rio Uruguay gibt es einen schmalen Streifen aus feuchtem Staub, dahinter beginnt der Strom. Fast zweieinhalb Kilometer ist er hier breit, man kann hinübersehen nach Uruguay.
Eins ist sicher: Colon ist kein besonders bekanntes touristisches Ziel, vielmehr „off the beaten track“. Umso besser. Dank unserer Tochter haben wir dieses Juwel Argentiniens entdecken dürfen, denn sie hat sich dieses Eck ausgesucht. Im Nationalpark sind wir fast allein mit den Wasserschweinen, Adlern und Schmetterlingen. Die sympathischen Capivaras stehen in Gruppen mitten in schlammigen Tümpeln, bei ihren Hinterteilen steigen immer wieder viele Bläschen auf. Gänzlich entspannt und ohne jede Hemmung furzen sie, sie haben kein Problem damit. Mit dem Remis, einer Art Privattaxi haben wir uns hin und zurück fahren lassen. Ein absolutes Highlight war das Baden am menschenleeren Strand des Rio Uruguay: Wenn auch das Wasser nicht perfekt blau und klar ist, der Strand ist einsam mitten in der hitzeflirrenden Natur des Nationalparks.
An den Wechselkursen beobachten wir, dass der argentinische Peso praktisch täglich abgewertet wird. In den paar Tagen seit wir Buenos Aires verlassen haben, ist der Euro von knapp 70 auf nunmehr 84 Pesos gestiegen. Für die argentinische Wirtschaft ist das schlimm, für uns dagegen gut. Wir müssen schauen, dass wir zwar stets über einen kleinen Vorrat Pesos verfügen, dieser aber bloß nicht zu groß, weil sonst rasch wertlos wird. Währenddessen ist der Niedergang der hiesigen Wirtschaft nicht zu übersehen. Viele Häuser und Geschäftsräume sowie Grundstücke stehen zum Verkauf. Besonders kleine und mittlere Unternehmen überstehen den neoliberalen Wirtschaftskurs der Regierung nicht. In einem Artikel lese ich über die „empresas recuperadas“, nach Insolvenz von den Mitarbeitern besetzte und in eigener Regie weitergeführte Betriebe. Es ist zwar nicht die Regel, dass so etwas passiert, aber die Zahl solcher Ereignisse steigt an. Radiosender, Schulen, Kliniken und Fabriken werden von (Mit-)Arbeiterräten übernommen. Ein Zukunftsmodell? Mit wachsender Verunsicherung und aufkeimender Sorge verfolgen wir auch die Nachrichten über die Corona-Pandemie. Unsere Familie daheim ist noch nicht betroffen, hoffentlich bleibt das so. Werden wir unsere Reise wie geplant fortsetzen können, wenn nach und nach die Ländergrenzen geschlossen werden? Wird unsere Tochter planmäßig nach Deutschland zurückkehren oder ist es besser, wenn sie lieber länger bei uns hier in Südamerika bleibt? Aber es ist sinnlos, sich Sorgen zu machen, also verbringen wir unseren letzten Tag mit unserem zugelaufenen Teilzeithund Perrito faul am Strand des Rio Uruguay.