Fin del mundo, Ende der Welt heißt die Gegend. Dort liegt ein 630 Quadratkilometer großer Nationalpark, der die südlichsten Urwälder unseres Planeten beherbergt. Heute habe ich ein kleines Nickerchen gehalten auf der Wiese vor dem See. So lieblich und angenehm war das Wetter, wer hätte das gedacht? Knappe 960 km sind es von hier noch bis zur Antarktis. Dennoch ist die Landschaft einladend: Wälder aus südlichen Buchen und rhododendronartigen Sträuchern säumen den Weg, die Strände des Südpolarmeeres sind wild und der Kies besteht aus schieferartigem Bruchgestein gemischt mit Muschelschalen. Im Wasser schwappt der Kelp mit jeder Welle hin uns her, in der Ferne leuchten die Schneehauben der Berge. Leider ist der Weg entlang der Küste ziemlich feucht und viele Matschlöcher halten uns auf, die im dichten Unterholz kaum zu umgehen sind. Für die rund acht Kilometer brauchen wir dann tatsächlich auch fast vier Stunden. Die krüppeligen Buchen sehen allesamt aus wie Baumbarts kleine Brüder im Fangornwald. Flechten gibt es hier auch, teils auch riesige mistelartige Aufsitzerpflanzen. Große Gallen sitzen an jedem dritten Stamm oder Ast, die Bäume sind gewiss vielfältigen Belastungen durch Klima, Wind, Trockenheit ausgesetzt. Wir sind es auch, das ewige Auf und Ab entlang des Küstenpfades zehrt an den Kräften. Die Ausblicke aufs wild schäumende Meer entschädigen jedoch für die Strapazen.
Unsere Zimmernachbarn, ein Paar aus Oregon sind gerade von einer Antarktiskreuzfahrt zurück. Sie berichten, dass sie bei den Landgängen auf dem Kontinent des Südpols ihre dicken Überlebensanzüge Schicht für Schicht ausgezogen haben, weil es viel wärmer war als erwartet und angekündigt.
Wir buchen einen Halbtagesausflug per Schiff auf dem Beagle-Kanal. Die Anbindung des gesamten pazifischen Raumes von der Westküste Nord- und Südamerikas über Australien und die Südsee an die europäischen Mutterländer lief vor dem Bau des Panamakanals über die Südspitze Südamerikas. Der Beaglekanal – eigentlich eine Meerenge oder ein Fjord, kein Kanal – war die bevorzugte Passage für alle Segelschiffe, die die Umrundung des berüchtigten Kap Hoorn vermeiden wollten. Später, als die Schiffe mit Dampf und schließlich mit Dieselmotoren auch gegen den Wind navigierten, fuhr man bevorzugt durch die Magellanstraße ein paar Hundert Kilometer weiter nördlich. Je weiter südlich, umso brutaler herrschten Wind und Strömung.
Wir lernen weitere Einzelheiten über die Ureinwohner Feuerlands. Diese Menschen besiedelten die unwirtlichen Gebiete seit Jahrtausenden friedlich und lebten als Sammler und Jäger von Robbenfleisch, Muscheln und Wurzeln. Mit den neuzeitlichen Entdeckern kamen vor allem Krankheiten und Alkohol, mit beiden konnten die Yamanas, Selk’nam, Haush und die anderen Stämme nicht umgehen. Später ließen die Großgrundbesitzern die Indianer systematisch durch Kopfgeldjäger töten oder vergiften. Von etwa 3000, die hier zur Zeit der Ankunft der ersten Europäer lebten, blieben zehn Jahre (1890) später noch 1000. Bis 1910 waren es nur noch 100. Heute huldigen den Indianern Wandgemälde.
Wir waren zwar schon ein paar Tage in Argentinien, aber das war nur ein kurzer Ausflug über die Grenze nach Calafate, um den Nationalpark Los Glaciares zu besuchen. Heute fahren wir richtig über die Grenze nach dem argentinischen Teil von Feuerland in die südlichste Stadt der Welt, Ushuaia. Darum jetzt meine Kurzinformation über das Land Argentinien, wer sich nicht dafür interessiert, kann diese gern überspringen. Ich jedenfalls finde es immer ganz passend, ein wenig über das Land Bescheid zu wissen, das ich gerade bereise. Während draußen eine sehr eintönige, flache aber nichtsdestoweniger schöne Grassteppe vorbeizieht, fasse ich das Wichtigste zusammen:
Argentinien ist der achtgrößte Staat der Erde und der zweitgrößte Südamerikas. Wegen seiner riesigen Ausdehnung (fast 3700 Kilometer von Nord nach Süd) und vielfältigen Höhenlagen hat das Land Anteil an mehreren Klima- und Vegetationszonen. Der Landesname ist eine Ableitung aus dem lateinischen Wort für Silber – argentum – und stammt aus der spanischen Kolonialzeit. Bis zu seiner Unabhängigkeit 1816 war das Land Teil des spanischen Kolonialreiches. Mit rund 44 Millionen Einwohnern steht Argentinien in Südamerika an dritter (nach Brasilien und Kolumbien) und in ganz Amerika an fünfter Stelle. Etwa ein Drittel davon lebt im Ballungsraum der Hauptstadt Buenos Aires, die als bedeutendes Kulturzentrum Amerikas gilt. Hier hat unter anderem der Tango Argentino seinen Ursprung. Weitere Ballungszentren bilden die Städte Córdoba, Rosario, Mar del Plata und Mendoza. Große Teile des trockenen und kalten Südens sind nur sehr dünn besiedelt.
Bis etwa 1950 war Argentinien eines der reichsten Länder der Erde. Wirtschaftlich spielten traditionell die Landwirtschaft, Viehzucht und der Rohstoffabbau eine große Rolle, wenn auch heute der Dienstleistungssektor mit rund 60 % den größten Anteil am BIP ausmacht. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts war das Land stark durch die Einwanderung aus Europa geprägt, vor allem aus Italien und Spanien. Die wichtigsten politischen Etappen seitdem sind der Peronismus (1946–1955; 1973–1976), mehrere Militärdiktaturen (insbes. 1976–1983), die Redemokratisierung (nach 1983) und der Neoliberalismus (1990er Jahre) bis zur Argentinien-Krise 2001 und der darauf folgenden Konsolidierung sowie die erneute Rezession. Augenblicklich wird angesichts der extremen Staatsverschuldung und Inflation ein Schuldenschnitt diskutiert.
Der gesamte Westen wird von den Anden eingenommen, der längsten kontinentalen Gebirgskette der Erde. Der zentrale Norden Argentiniens ist der Gran Chaco, eine heiße Trockensavanne. Östlich davon schließt sich entlang des Río Paraná das Hügelland der Provinz Misiones an. Dort befinden sich am Dreiländereck Argentinien–Paraguay–Brasilien die Iguazú-Wasserfälle; sie sind etwa 2,7 Kilometer breit und zählen zu den größten der Erde. Südlich davon, zwischen den großen Strömen Río Paraná und Río Uruguay, liegt das feuchte und sumpfige Mesopotamia. Am Río de la Plata, dem gemeinsamen Mündungsgebiet dieser beiden Ströme, liegen die Stadt Buenos Aires und die gleichnamige Provinz, das wirtschaftliche Herz Argentiniens. Westlich und südlich von Buenos Aires erstrecken sich die Pampas, eine grasbewachsene Ebene, wo der größte Teil der Agrarprodukte des Landes erzeugt wird. In dieser Region befinden sich große Weizenfelder und Weideflächen für Rinder; die Ausfuhr von Rindfleisch brach ab 2005 als Folge von Exportbeschränkungen und -verboten der Regierung von 771.000 Tonnen auf 190.000 Tonnen ein. 2017 gingen wieder 308.638 Tonnen Rindfleisch in den Export. Zwischen den Pampas und den Anden liegen im zentralen Argentinien die Gebirgszüge der Sierras Pampeanas. Das im Süden Argentiniens gelegene Patagonien ist von starken Westwinden geprägt und hat ein sehr raues Klima. Die höchsten Berge des Landes liegen in den Anden: der Aconcagua mit 6961 m Höhe und die beiden höchsten Vulkane der Erde, der Ojos del Salado mit 6880 m und der Monte Pissis mit 6795 m. Argentinien hat trotz seiner lang gestreckten Küstenlinie nur wenige Inseln. Die größte ist die zum Archipel Feuerland gehörende Isla Grande de Tierra del Fuego mit 47.020 km², die sich Argentinien (Provinz Tierra del Fuego, 21.571 km²) und Chile (25.429 km²) teilen. Völkerrechtlich umstrittenes Territorium sind die Falklandinseln (spanisch Islas Malvinas), eine Inselgruppe im südlichen Atlantik. Sie gehören geographisch zu Südamerika, liegen 600 bis 800 km östlich von Südargentinien und Feuerland und sind britisches Überseegebiet. Seit 1833 werden sie von Argentinien beansprucht. Die Besetzung der Inseln durch Argentinien am 2. April 1982 löste den Falklandkrieg aus, der bis zum 14. Juni 1982 dauerte und mit einer Niederlage für Argentinien endete.
Etwa 90 Prozent der Bevölkerung stammen nach der offiziellen
Statistik von eingewanderten Europäern ab, hiervon 36 % von Italienern, 29 %
von Spaniern und 3 bis 4 % von Deutschen. Nur eine Minderheit der Argentinier
sind ausschließlich Nachkommen der insgesamt 30 Ethnien, die vor dem Eintreffen
der Spanier auf dem Landesterritorium lebten. Die soziale Situation des Landes
ist in mehrerlei Hinsicht durch eine starke Ungleichheit gekennzeichnet. So
gibt es einerseits wie in ganz Lateinamerika ein großes Wohlstandsgefälle
zwischen Ober- und Unterklasse, andererseits gibt es große regionale
Unterschiede. Rund um die Hauptstadt ist die Einkommenssituation am besten, im
Nordosten am schlechtesten. In Folge der Krise und Rezession leben rund 40% der
Menschen unterhalb der Armutsgrenze.
Die Fahrt findet schon rasch eine Unterbrechung: In Punta Delgada ergibt sich ausgiebig die Gelegenheit, chilenische Fährleute beim Rangieren ihrer Schiffe zu studieren. Mit offener Bugklappe fährt das riesige Schiff an den Anleger, der nichts weiter darstellt als eine Betonrampe in die eisigen Wellen der Magellanstraße. Offenbar hat man hier noch nie was von der Katastrophe der Estonia gehört? Warum unser Bus nicht mit der ersten und auch nicht mit der zweiten Fähre mitfährt, erschließt sich dem uneingeweihten Fahrgast nicht. Wir stehen stundenlang im Wind, der hier in Orkanstärke blast. Mir reißt der Sturm den Reißverschluss an einem Hosenbein vom Oberschenkel bis zur Ferse auf. Fähren kommen, Fähren legen ab. Wir beobachten, wie Tanklastzüge und riesige Lastwägen Anhängern voller Schafe von Bord rollen. An dem Knick, wo die stählerne Rampe der Fähre auf der betonierten Schräge des Anlegers schrappt, setzen sie regelmäßig mit dem Heck auf, während sich das Schiff mit vollem Einsatz der Seitenstrahl-Ruderanlage mühsam auf der Stelle hält. Endlich, bei der vierten oder fünften Fähre dürfen wir an Bord gehen, es ist die schäbigste von allen, die wir hier gesehen haben. Vielleicht hat die Busfirma ein Abo bei eben dieser Fährgesellschaft? Wir werden gleich in ein enges Kabuff neben dem Frachtraum gelotst. Die Überfahrt ist eher langweilig, denn außer den zum Teil recht heftigen Bewegungen des Schiffrumpfes bekommt man nichts mit. Dass das Seewasser über die haushohen seitlichen Aufbauten der Fähre hinweggespritzt hat bis an die Busfenster erkennen wir an den Salzkrusten auf den Fensterscheiben. Als wir in Feuerland anlegen, ist das erste, was ich durch die – wiederum offene – Bugklappe sehe, ein riesiges Wandgemälde an einer Mauer: Mapuchegesichter. In letzter Zeit hat es bei den Nachkommen der Ureinwohner eine Rückbesinnung auf alte Traditionen gegeben und ein gewisser Stolz auf die Herkunft ist aufgekommen. Der Fähranlegeplatz ist weniger als ein Fleck auf der Landkarte: Ein paar Häuser, eine Cafeteria, ein Campingplatz. Die letzten knapp 200 Kilometer auf chilenischem Boden fahren wir nun auf der Insel Feuerland. Hier scheint es die Guanakos in größerer Zahl zu geben als auf dem Festland, man sieht sie viel öfter neben der Straße. In den kleinen Salzlagunen sehen wir immer wieder Gruppen rosafarbener Flamingos stehen. Sie verbringen hier den südlichen Sommer, im Winter werden sie wieder nach Norden in die Atacama- und Uyuniwüste ziehen, stets auf der Suche nach ihrer Haupt- und Lieblingsnahrung, winzigen roten Salzkrebslein, die ihnen auch zu ihrer Farbe verhelfen. Der Grenzübertritt nach Argentinien wird mit peinlicher Bürokratie bewältigt, allein die Beamten der beiden südamerikanischen Länder Chile und Argentinien haben bei mir mehr als zwei Seiten des Passes vollgestempelt. Zum Glück müssen wir nicht mehr nach Chile zurück, die Zöllner dort sind mit dem Gepäck extrem pingelig und durchsuchen alles ganz genau. Der Argentinier dagegen ist da schon eher lässig; hier sind auch die Straßen erstmal nicht geteert und es fehlen die in Chile unvermeidlichen Zäune entlang der Straße. Dafür stehen jetzt mehr Rinder als Schafe in der Landschaft herum. Bald schon sehen wir wieder das Meer. Seit über drei Monaten haben wir uns im und am Pazifik herumgetrieben, ab jetzt ist es der Atlantik.
An Rio Grande beginnt auch wieder die Zivilisation: große
Zweckbauten, Ladekais, Autoschrottplätze und Fabriken säumen die Landstraße.
Die Landschaft wird immer hügeliger, dann richtig bergig. Der Bus folgt der
engen Straße, die sich steil den Hang hinauf Richtung Paso Garibaldi windet.
Tief unter uns im Tal mäandert ein Fluß, der Rio Olivia in vielen Kurven dahin.
Seine Ufer und Kiesflächen sind voller abgestorbener Bäume. Wir haben gelesen,
dass hier Biber ausgesetzt wurden, um das Spektrum des jagbaren Wildes zu
erweitern. Leider passen die Dammbauer gar nicht in das hiesige Ökosystem.
Sobald sie wie gewohnt Bachläufe und Flüsse aufstauen, sterben die südlichen
Urwälder ab, denn sie können die Feuchtigkeit nicht verkraften. Mit über zwei
Stunden Verspätung treffen wir nach einer zwölfstündigen Busreise am späten
Abend in Ushuaia ein, das Ende der Welt ist endlich erreicht. Es ist längst
dunkel und ein Taxi gibt es auch nicht. Gut, dass wir den ganzen Tag im Bus
gesessen sind – so macht uns der Marsch bergauf nicht viel aus. Irgendwann
kommt doch ein Taxi daher, wir halten es an. Die Vorsichtsregel „Nie in ein
Taxi einsteigen, das du nicht selbst per Telefon hergerufen hast!“ gilt doch in
der südlichsten Stadt der Erde nicht, oder? Jedenfalls ist der Fahrer sehr
nett, wir finden unser Hostel zunächst nicht und starren alle in unsere Handys.
Als sich herausstellt, dass wir direkt davor stehen, müssen wir herzlich
lachen. Die Herberge ist ein echter Glückstreffer: Nette Leute, ein gemütliches
Haus.
Ushuaia, Gletscherpfad Luis Martial
Der Regen geht in Schnee über, der Schnee in Hagel. Zum Glück bläst der Wind nur in Sturmstärke, längst kein Orkan wie zuletzt im Torres del Paine. Rund 17 Kilometer wandern wir an diesem Tag stramm, in Ushuaia gibt es Gletscher schon auf gut tausend Meter über Meereshöhe. So schöne Berge hätten wir hier unten in Feuerland gar nicht erwartet. Ein grandioses Panorama öffnet sich vor und über uns, der Blick auf den Gletscher erfreut die Wanderer, frischer Neuschnee bedeckt bei weitem nicht nur die Gipfel, sondern auch die Hänge bis hinab zu der Stelle, wo wir uns gegen sen Schneesturm stemmen. Leider müssen wir den Weg zum Gletscher kurz vor dem Ziel abbrechen, obwohl er weder technisch noch konditionell besonders anspruchsvoll ist. Wir besitzen beide keine wasserdichten Hosen, ich keine Handschuhe. Schon bald sind wir klatschnass ab der Hüfte abwärts und die eisige Kälte beißt uns auch obenrum, denn die Jacken halten auch nicht dicht. So drehen wir um und gehen stattdessen den kurzen Abstecher zum Mirador (Aussichtspunkt) über Ushuaia. Der Ausblick ist wunderbar, in der Bucht vor der Stadt blinkt das Meer stellenweise wieder blau, sobald eine Lücke zwischen den Wolken die Sonne durchlässt. Der heftige Wind beginnt schon hier unsere nasse Kleidung trocken zu pusten, leider bringt das zusätzliche Kälte. Unten im Wald der Südbuchen wird der Wind leichter, die verdrehten kümmerlichen Bäume bieten einen guten Schutz. Wir wandern entlang eines munteren Bergbaches, der Weg ist schlammig, aber durch Knüppel und Stege passierbar. In der Stadt besorgen wir uns dann doch noch argentinische SIM-Karten für die Handys, ein neues T-Shirt für Andrea (mit Pinguinen!) und eine leckere Paella für uns beide. Beim Absacker in der Eckkneipe kommen Musikanten herein, um ein Spontankonzert zu geben. Mit Geige und Gitarre tragen die zwei ein paar Lieder vor, die uns und alle anderen Gäste begeistern. Ein schöner Tag!