30.01.2020, über dem Pazifik südlich der Osterinsel
So einen Flug habe ich noch nicht erlebt. Abgeflogen sind wir um 6.00 Uhr morgens in Auckland, auf unserem Zwischenstopp in Sydney landeten wir etwa zwei Stunden später, aber in Sydney war es wiederum erst 6.00 Uhr und es wurde gerade Tag. Um 10.00 Sydneyzeit sind wir gestartet Richtung Osten, nach Santiago. Dabei sind wir quasi mit der Dämmerung mitgeflogen, draußen war stundenlang Zwielicht, dann Nacht. Jetzt ist es stockfinster, für mein Gefühl Abend, Ortszeit schätzungsweise Mitternacht. Aber jetzt kommts: Nachdem wir auf dem Flug einen Zeitunterschied von zehn Stunden und gleichzeitig die Datumsgrenze überschreiten, werden wir in Santiago etwa drei Stunden nach unserem Abflug in Auckland ankommen. Und das, obwohl wir den gesamten Pazifik überquert plus die Distanz Neuseeland – Australien überwunden haben. Der Service an Bord ist auch nachtschwarz. Nachdem es in den bisher neun Stunden Flug nur eine Semmel und ein Muffin gegeben hat, von Kaffee ganz zu schweigen, haben ein paar Passagiere die Küche gestürmt. Wir konnten uns eben noch die Reste einer Weinflasche sichern, bevor die Stewardessen den Raum wieder zurück erobert haben. Zu essen oder trinken gibt es nach wie vor nur im Selbstbedienungsmodus. Soll uns das auf Chile einstimmen?
Schließlich gab es doch noch etwas, kurz nach Sonnenaufgang erhielten wir wahlweise Schlabbergnocchi (die ich selbst beim Lieblingsitaliener hasse) oder Lamm mit Süßkartoffeln (mit allen verfügbaren Gewürzen bestreut durchaus essbar). Halb in Trance erleben wir die ruppige Landung und die lässigen Einreiseformalitäten. Natürlich nehmen wir trotz bleischwerer Müdigkeit kein Taxi, sondern den Klapperbus, wie die Einheimischen. Es stellt sich heraus, dass wir umsteigen müssen: Abenteuer Metro für zwei schlaflose Zombies! Aber alles halb so schlimm, es ist hier nicht viel anders als in allen anderen Städten, Weg checken, Chipkarte erwerben/aufladen, ab durchs Drehkreuz und rein ins Getümmel. Nette Leute weisen uns den Weg und manche sprechen derart langsam und deutlich, dass sogar ich es verstehen kann, obwohl meine Spanischkenntnisse extrem rudimentär sind. Genauer gesagt sind diese nicht vorhanden, nur habe ich damals im Urschleim noch zusammen mit den anderen Dinosauriern meiner Generation Latein gelernt. Es geht nichts über eine humanistische Grundbildung!
Über Chile: Wen es nicht interessiert, möge die die folgenden Absätze überspringen, ich habe sie nur für alle anderen aus Wikipedia und unserem Reiseführer zusammengeschnippelt.
Chile, „das langgestreckte Land“ hat eine Nord-Süd-Ausdehnung von rund 4275 Kilometern. In west-östlicher Richtung ist das Land nur durchschnittlich etwa 180 Kilometer breit. Die Längenausdehnung Chiles entspricht auf Europa und Afrika übertragen in etwa der Entfernung zwischen Dänemarks und der Sahara. Das Wort chilli bedeutet in der Sprache der Aymara „Land, wo die Welt zu Ende ist“.
Der moderne souveräne Staat Chile gehört zu den wirtschaftlich und sozial stabilsten und wohlhabendsten Ländern Südamerikas mit einer einkommensstarken Wirtschaft und einem hohen Lebensstandard. Es führt die lateinamerikanischen Nationen in Bezug auf menschliche Entwicklung, Wettbewerbsfähigkeit, Pro-Kopf-Einkommen, Globalisierung, Friedenszustand, wirtschaftliche Freiheit und geringes Korruptionsempfinden an. Nach Einschätzung der Weltbank ist Chile ein Schwellenland mit einem Nettonationaleinkommen im oberen Mittelfeld. Das Land ist relativ sicher, es weist nach Kanada die niedrigste Mordrate in Amerika auf.
Chile ist durch die globale Erwärmung ernsthaft gefährdet und hat seit Anfang der 90er Jahre mindestens 37 % seiner Wasserressourcen verloren. Chiles Geografie ist stark durch Gebirge und Vulkane geprägt: Im Osten die über 6000 Meter hohen Anden, im Westen die Küstenkordilliere, dazwischen das fruchtbare Valle Central. Der höchste Berg Chiles, der Ojos del Salado (6893 m), ist zugleich der höchste Vulkan der Welt. Im Norden des Landes („großer Norden“, Norte Grande) liegt die Atacamawüste, eine der trockensten Wüsten der Erde. Die Mitte des Landes um die Hauptstadt Santiago herum ist sehr fruchtbar und daher ein Zentrum der Landwirtschaft sowie auch der Industrie. Am dichtesten besiedelt ist der Großraum Región Metropolitana de Santiago, wo etwa die Hälfte der chilenischen Einwohner lebt. Die Stadt selbst hat etwa 5,5 Millionen Einwohner; sie beherbergt also in etwa ein Drittel aller Einwohner Chiles. Das sehr dünn besiedelte Südchile (genannt „großer Süden, Sur Grande“) ist eine äußerst niederschlagsreiche Region. Die Küste ist durch eine Vielzahl vorgelagerter Inseln stark zerklüftet. Südlich des Festlands befindet sich die Insel Feuerland, die sich Chile mit dem Nachbarland Argentinien teilt. Auf der Feuerland vorgelagerten Insel Isla Hornos befindet sich Kap Hoorn, der südlichste Punkt Chiles und Südamerikas.
Während der Kolonialzeit wurde Chile durch spanische Einwanderer besiedelt. Im 19. Jahrhundert wanderten besonders viele englische und irische sowie deutsche Siedler ein. Nennenswerte Zahlen von Einwanderern kamen außerdem aus Frankreich, Italien, Kroatien und in jüngerer Zeit aus Palästina bzw. dem Nahen Osten. Die ersten Deutschen trafen 1843 ein und siedelten sich später vor allem im Gebiet um den Llanquihue-See und in Valdivia, Osorno sowie Puerto Montt an. Noch heute wird die deutsche Sprache von bis zu 35.000 Einwohnern verwendet, deren Zahl allerdings stetig abnimmt. Menschenrechtsorganisationen bemängeln bis heute den schlechten Umgang mit den wenigen verbliebenen Ureinwohnern, vor allem den Mapuche, insbesondere in Bezug auf Landstreitigkeiten.
Allende und Pinochet
Im Jahre 1970 gewann Salvador Allende die Präsidentschaftswahlen für das linke Wahlbündnis Unidad Popular. Er verstaatlichte in der Folge die wichtigsten Wirtschaftszweige (Bankwesen, Landwirtschaft, Kupferminen, Industrie, Kommunikation) und geriet dadurch in wachsende Konflikte mit der Opposition – obwohl die Verstaatlichungen von der Verfassung gedeckt waren. Zudem stieß der Wahlsieg Allendes in den USA auf heftigen Widerstand. Obwohl Allende weder Marxist noch Anhänger eines Einparteienstaates war, verhängten die USA Sanktionen; der CIA unterstützte Attentate und Putschversuche. 1973 kam es schließlich zu einem erfolgreichen blutigen Militärputsch gegen die Regierung. Präsident Allende beging Selbstmord. Hunderte seiner Anhänger kamen in diesen Tagen ums Leben, Tausende wurden inhaftiert. Sämtliche staatlichen Institutionen in ganz Chile wurden binnen Stunden vom Militär besetzt. Die Macht übernahm als Präsident einer Junta General Augusto Pinochet. Überall im Lande errichtete das Militär in der Folgezeit Geheimgefängnisse, wo Oppositionelle und deren Sympathisanten nicht selten zu Tode gefoltert wurden. Tausende Chilenen gingen wegen der fortgesetzten Menschenrechtsverletzungen ins Exil.
Kurz nach der Machtübernahme Pinochets begannen die USA und die westeuropäischen Staaten, Chile wieder intensiv mit Wirtschaftshilfe zu unterstützen. Die Militärregierung machte die Verstaatlichungen Allendes mit Ausnahme der Kupferminen rückgängig, führte radikale Wirtschaftsreformen durch und schaffte die Gewerkschaftsrechte ab.
In Deutschland erhielt die Regierung Pinochets lange Zeit Unterstützung aus den Reihen der Union, vor allem der CSU. So lobte Franz Josef Strauß 1977 bei seinem Besuch den Umsturz als „gewaltigen Schlag gegen den internationalen Kommunismus“. Es sei „Unsinn, davon zu reden, daß in Chile gemordet und gefoltert würde“. Später änderte sich die Sichtweise, in den achtziger Jahren wurde auch in der CDU die Kritik an den Menschenrechtsverletzungen des Regimes deutlicher. In diese Zeit fällt auch der Chilebesuch von Norbert Blüm, bei dem dieser Pinochet im direkten Gespräch damit konfrontierte.
Insbesondere in der Colonia Dignidad, einer streng bewachten Siedlung von Auslandsdeutschen unter Führung von Paul Schäfer, wurde gefoltert. Die Sekte war etwa zehn Jahre vor der Machtübernahme Pinochets gegründet worden und diente während der Militärherrschaft als Folterzentrum für die chilenischen Geheimdienste. Darüber entwickelte sich die Colonia zu einem florierenden Konzern, der unter anderem Titan nach Deutschland exportierte. Trotz Hinweisen, gerichtlichen Anklagen und Fluchtversuchen deutscher Bürger übte die deutsche Botschaft in Chile „äußerste Zurückhaltung“ und blieb untätig, mehr noch, sie ließ Handwerker der Siedlung die Botschafterresidenz renovieren.
1988 wurde eine Volksabstimmung abgehalten, bei der sich eine Mehrheit (55 %) gegen eine weitere Amtszeit Pinochets aussprach. 1989 fanden die ersten freien Wahlen nach 15-jähriger Diktatur statt, seither hatten mehrere sozialistische, aber auch rechtskonservative Präsidenten die Macht inne. Die außenpolitischen Beziehungen zu den USA, der Europäischen Union und vor allem auch zu Deutschland sind nach wie vor traditionell gut. Komittees zur Wahrheitsfindung sind bis heute damit beschäftigt, die Verbrechen der Militärdiktatur aufzuklären, Pinochet selbst ist 2006 verstorben, ohne je verurteilt worden zu sein.
Vor wenigen Wochen erschütterten schwere landesweite Unruhen den scheinbar friedlichen Staat: Die Menschen protestierten gegen die ungerechte Verteilung des Reichtums, Anlass war eine Fahrpreiserhöhung im öffentlichen Nahverkehr. Wegen der anhaltenden Proteste sagte die Regierung die UN-Klimakonferenz ab, die geplant im Dezember 2019 in Santiago de Chile abgehalten werden sollte.
Angekommen in Santiago
Unser Hostel erweist sich als Glücksgriff, ein schönes Haus von 1900 voller netter Leute. Und ein zurückgelassener Chile-Reiseführer in Buchform wartet auch schon im Tauschregal auf uns! Am liebsten würden wir unseren stattdessen reinstellen, geht aber nicht. Ist ja ein Download auf dem Ereader. Nie wieder würde ich einen Reiseführer fürs Ebook kaufen, völlig unbrauchbar. Wir duschen und schlafen ein paar Stunden unseres Jetlags weg. Danach fühlen wir uns fit genug für einen Spaziergang in die City und haben unsere erste Begegnung mit der chilenischen Küche. Die Stadt fühlt sich freundlich, lebhaft und recht schwungvoll an, wenn auch viele verlassene und verfallene Gebäude mitten in der Innenstadt derzeit nur den einen Daseinszweck als Streetart-Träger haben. Ein paar mit Brettern vernagelte Schaufenster und mehrere gepanzerte, vergitterte schwarze Polizeibusse, verbeult und von Farbbomben verkleckst sind am Straßenrand zu sehen. Ein Supermarkt im Zentrum ist mit Stahlplatten verbarrikadiert, es bleibt nur eine schwere Eisentür zu den Verlockungen des Konsums.
Offenbar sind dies Überbleibsel der Unruhen vor zwei Monaten. Jedenfalls scheint uns die Stadt lässig – liberal. Wir sehen in einer Stunde mindestens vier Paradiesvögel: Bunte Schwule und Diverse. Ein Transgender berät uns bezüglich unserer SIMkarten für die Handys.
01.02.2020 Santiago de Chile
Und die beschäftigen uns dann auch fast den ganzen Tag lang immer wieder. Gut, dass wir inzwischen einigermaßen relaxed sind und nichts auf Teufel-komm-raus erzwingen. So genießen wir die angenehme Atmosphäre der Stadt, schlendern über die geschäftigen Straßen voller Händler und Geschäfte, sitzen gemütlich in den einladenden Straßenlokalen, von wo man dem Trubel sehr gelassen zusehen kann. Es gibt hier übrigens hervorragenden Wein zu sehr verführerischen Preisen. Mit dem Problem „online-Status-herstellen“ beschäftigen wir uns zwischen unseren Besuchen im Stadtzentrum, beim Zentralmarkt und beim Museo de la Solidaridad Salvador Allende. Am Plaza de Armas schauen wir den alten Herren beim Schachspiel und den jungen Frauen beim Balzen zu. Letztere tragen ihre weiblichen Rundungen sehr freizügig zur Schau, überwiegend sehr gut bestückt, aber knapp bedeckt. Hautenge kurze Hosen oder Minis zu knappsten Oberteilen – und das obwohl die heiligste Kathedrale de la Serena in Steinwurfweite liegt. Doch damit nicht genug: Selbst im Inneren der Kathedrale sieht man die Entblößten, wie sie sich Weihwasser auf die Stirne tupfen! Hier hat der Katholizismus seine stärksten Bastionen und blüht gleichzeitig hoffnungserweckend. Santa virgen Maria, redimirnos!