Angeschwärzt und rausgeflogen 21.03.

Gestern mussten wir kurz nach 22 Uhr unsere Bleibe verlassen. Wir kommen uns vor wie in einem schlechten Film, es wirkt alles so surreal auf uns. Ein paar kurze Zeilen von Fede, unserem Vermieter, Blitzpacken unserer Siebensachen und eine Viertelstunde später standen wir auf der Straße. Nachbarn in der Wohnanlage hatten sich bei unserem Vermieter beschwert, weil Pia gehustet hat. Sie hat sich beim Wechsel zwischen eiskalter Klimaanlage und schwülheißem Wetter draußen erkältet. Nein, sie hat bestimmt kein Corona, typische Anzeichen wie Fieber fehlen, dafür hat sie Schnupfen, was auch dagegen spricht.

Zum Glück hatte Fede eine andere Unterkunft für uns. Nach langem und bangem Warten kam endlich ein Taxi. Die neue Ferienwohnung ist sogar noch größer, dafür sehr hellhörig. Dank Ausgangssperre fährt nur sehr wenig Verkehr, aber die Mopeds und Lastwagen, die alle paar Minuten vorbeikommen, scheinen direkt durchs Wohnzimmer zu brausen. Der Gasherd funktionierte erstmal nicht und der Kühlschrank fiel auseinander, aber beides habe ich noch in der Nacht repariert, ich habe ja sonst nicht viel zu tun. Diese Nacht habe ich kaum ein Auge zugetan. Die Nachbarschaft ist ärmlicher als die vorherige. Es gibt reichlich Straßenhunde, die ständig im Clinch liegen mit den Wach- und Kettenhunden der Einwohner. Wir bemühen uns, sehr leise zu sein und überhaupt nicht aufzufallen.
Gestern haben wir erfahren, dass nach dem schlimmen Regen das Denguefieber umgeht. Corona ist hier bisher noch nicht, aber Dengue. Diese Erfahrung möchte ich uns unbedingt ersparen.

Viele Menschen leben hier von einem Tag auf den anderen, sie hatten insbesondere in der Rezession der letzten Jahre keine Chance, finanzielle Reserven zu bilden. Wir befürchten, dass Teile der Bevölkerung irgendwann Probleme bekommen, sich mit dem Nötigsten zu versorgen. Dann wird nicht mehr gehamstert, sondern geplündert.

Es ist schwer, unter den gegebenen Umständen gefasst und ruhig zu bleiben, zumal wir hier sehr wenige Dinge haben, um uns zu beschäftigen. Die Versuchung ist groß, ständig am Handy zu hängen und nach neuen Informationen zu suchen, aber das macht einen auf die Dauer irr.  

Wir haben uns ein Tagesprogramm überlegt, damit wir geistig klar bleiben: Aktuelle Info, Gymnastik, Frühstück, Putzen, Spiele, Spanisch lernen, Geschichten erzählen, nochmal Gymnastik, wieder Info, Kochplan überlegen, Einkaufsliste, Einkaufen (falls möglich, sehr beliebt), wieder Gymnastik, gemeinsam kochen, Essen, nochmal Info.

Wir denken viel an unsere Lieben daheim, Verwandte und Freunde; Menschen, denen es vielleicht noch schlechter geht. Nach der Pandemie wird die Welt nicht mehr dieselbe sein. Wie immer bringt die Krise die besten und die schlechtesten Charakterzüge in den Menschen hervor. Wir haben heute Nacht beides erlebt, aber bestimmt kann da jeder von euch seine eigene Geschichte erzählen in diesen Tagen.

Update 20.03.

Die Aussetzung des öffentlichen Verkehrswesens (Busse, Flüge) in Argentinien wurde heute bis 31. März verlängert. Unser Flug in die Hauptstadt, den wir gestern buchen konnten, ist annulliert.

Mein Eindruck ist, dass die meisten Länder Südamerikas (außer Brasilien) früher und entschlossener reagiert haben als Europa. Das ist auch gut so. Ich wage nicht mir vorzustellen, was hier passiert, wenn eine Infektionswelle wie in Italien losbricht. Intensivmedizin und Beatmungsbetten gibt es sicher nicht so viele wie dort.

Das Dekret der Regierung spricht von einer sozialen, präventiven und obligatorischen Isolation der gesamten Bevölkerung. Auch Autofahren ist nur Personen erlaubt, die zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung systemwichtige Aufgaben (Produktion, Ver- und Entsorgung, Gesundheitsdienste) erledigen müssen. Also hat es auch keinen Sinn, zu astronomischen Preisen ein Auto zu mieten, um sich nach Buenos Aires durchzuschlagen.

Die Geschäfte bleiben geschlossen, Lebensmittelläden und Apotheken haben stundenweise offen und dürfen nur von Einzelpersonen betreten werden. Von anderen gestrandeten Reisenden haben wir erfahren, dass Polizeiteams unterwegs sind, die Personalien von Ausländern aufnehmen beziehungsweise Pässe sehen wollen. Praktisch befinden wir uns bereits seit drei Tagen in einer selbst auferlegten Quarantäne. Wir sitzen in unserem Zimmer und verbringen die Zeit mit Recherche zur Situation, Gymnastik, Spielen, Spanischlernen und kümmerlichen Kochversuchen.

Unsere Möglichkeit, frisches Essen zu lagern ist sehr beschränkt, immerhin haben wir einen Minikühlschrank. Der Strom läuft jetzt wieder seit gestern ohne Unterbrechung. Wir haben Wasser, einen Topf und eine Kochplatte. Mein Datenvolumen ist jetzt noch 3.25 GB.

Update 19.03.

Danke an alle, die sich um uns sorgen und bemühen. Auch wir denken an euch. Wie gesagt, hier geht nichts mehr. Wir kommen momentan nicht mehr aus Iguacu raus. Die Grenze nach Brasilien ist geschlossen und es gibt bis auf weiteres keine Busse oder Flugzeuge für uns. Wir haben gerade den ersten möglichen Flug nach der Quarantänefrist für nächsten Donnerstag nach Buenos Aires gebucht und hoffen, dass dieser auch stattfindet.

Der Vermieter hat uns zugesichert, dass wir das Apartment für eine Woche haben können. Die Menschen hamstern hier genauso wie in Europa. Die Polizei fährt mit Lautspecherwägen durch die Straßen und fordert die Leute auf, nach Hause zu gehen. Überall sieht man bewaffnete Patrouillen mit schusssicheren Westen. Die meisten Geschäfte sind geschlossen, Lebensmittelläden haben stundenweise auf und dürfen nur von Einzelpersonen betreten werden. Vor den Läden stehen lange Schlangen.

Der gestrige stundenlange Wolkenbruch lässt mich befürchten, dass jetzt bald die Regenzeit beginnt. Solch einen extremen Starkregen habe ich noch nicht erlebt. Binnen Sekunden stand das Wasser auf der Straße hüfttief! Der Strom war stundenlang ausgefallen, zum Glück gibt es jetzt wieder Strom.

Wir können unter diesen Umständen selbstverständlich unsere Reise nicht fortsetzen, stecken andererseits hier fest. Die Nachrichtenlage ist unklar, aber sicher ist, dass in Argentinien eine landesweite Quarantäne ausgerufen wurde. Über eine Ausgangssperre wird schon gesprochen.

Da wir hier festsitzen, bleibt uns nichts als abzuwarten und zu hoffen, dass die Behörden uns nicht trennen. Bisher sind alle Menschen freundlich zu uns. Einige Freunde haben vorgeschlagen, sich für uns bei Abgeordneten zu verwenden. Danke für euere Idee und Bereitschaft. Ich habe das jedoch bisher abgelehnt. Ich schätze, die Krisenteams sind froh, wenn sie ihre Arbeit tun können und nicht von Politikern behelligt werden. Wir sind in der Krisenliste „Elefand“ und im „rueckholprogramm.de“ eingetragen. Soweit Strom, Akku und mobiles Datenvolumen reichen, verfolgen wir die Meldungen auf den Seiten des Auswärtigen Amtes und der deutschen Botschaft in Buenos Aires, mit der wir auch per Email in Kontakt stehen.

Update

Auf der Suche nach einer Bleibe sprechen wir mit vielen Hotel- und Hostelwirten, die uns allesamt ablehnen. Einer davon ist sehr mitfühlend, umarmt uns sogar herzlich, aber aufnehmen könne er uns nicht. Er riskiere seine Existenz, wenn er das täte. Als wir ihm erzählen, dass wir auch schon bei der Polizei (erfolglos) nachgefragt haben, reagiert er entsetzt. Geht bloß nicht zur Polizei, rät er uns in aufgeregtem und schwer verständlichem Spanisch. Mit Gesten zeigt er Handfesseln und Kopf-ab. Er fürchtet, dass man uns dann die Pässe abnehmen und irgendwohin bringen könne.

Letztlich haben wir ein kleines Apartment gefunden. Der Vermieter wusste offenbar noch nichts von den Restriktionen und übersieht auch offenbar noch nicht die bevorstehenden Folgen. Hoffentlich bleibt er bei seiner Zusicherung, dass wir hier bis auf Weiteres bleiben können. Wir haben jetzt erstmal für eine Woche gebucht und bezahlt. Das Apartment hat drei Betten, einen Tisch und eine Spüle, einen Kühlschrank und eine winzige Kochplatte. Wenn hier die Restaurants schließen, können wir uns selbst versorgen, ein Wasserkocher ist da, wir können das Trinkwasser abkochen. Noch kann man einkaufen, wir hoffen bloß, dass die Leute hier nicht zu hamstern anfangen. Mit unseren dürftigen Sprachkenntnissen und der schwierigen Informationslage sind wir sicher die Letzten, die davon etwas mit- und etwas abbekommen.

Wir haben hier zwar kein WLAN, aber gestern immerhin noch daran gedacht, unsere argentinischen SIMkarten aufzuladen. Bis auf weiteres sind wir also noch online. Wir haben noch Bargeld, wenn auch zu horrenden Gebühren abgehoben. Egal.

Wir haben uns mehrfach bei den deutschen Auslandvertretungen gemeldet, allerdings kommen von der Botschaft und vom Auswärtigen Amt lediglich allgemeine Infomails zu uns, verständlicherweise sind die Mitarbeiter wahrscheinlich mit wichtigeren Fällen befasst. Die Onlineseite der Krisenliste „Elefand“ ist zuletzt sporadisch erreichbar, offenbar total überlastet. Die Informationen des Auswärtigen Amtes und der Botschaft in Buenos Aires verfolgen wir natürlich.

Heute gibt es zwar noch letzte Busverbindungen aus Iguacu heraus, aber die Busse sind sämtlich ausgebucht. Flüge gibt es ebenfalls keine mehr. Ab morgen schließen alle Restaurants, Hotels und Geschäfte, die Quarantäne gilt landesweit. Die Grenzen zu den Nachbarländern sind bereits geschlossen. Iguacu ist eine Kleinstadt in Grenznähe zu Brasilien, es gibt sogar einen Flugplatz. Meine Einschätzung ist: Solange wir kein Flugticket haben, ist es besser hierzubleiben, als panisch irgendwohin zu fahren, wo wir dann möglicherweise ohne Unterkunft schlechter dastehen als hier. Schon gar nicht in einer Millionenstadt wie Rio, Buenos Aires oder noch schlimmer Sao Paulo. Ich stelle es mir wenig reizvoll vor, in einem relativ armen, von Rezession und Pandemie gebeutelten Land auf der Straße zu leben, wenn hier der Horror erst so richtig losgeht. Im Übrigen ist es jetzt generell wenig sinnvoll, herumzureisen. Kontakte einschränken, das ist ja wohl der Sinn einer Quarantäne, oder?

Die wirtschaftlichen und sozialen Folgen dieser Krise sind nicht absehbar, zweifellos wird unsere Welt nicht mehr dieselbe sein. Vielleicht will der Planet uns zeigen, dass es genug ist? Gewiss hat Corona bereits jetzt mehr für das Weltklima getan als alle Klimaschutzpakete und Freitagsdemonstranten zusammen.

Wir danken den vielen lieben Freunden, die an uns denken und uns schreiben. Das tut gut. Wir denken auch an euch und wünschen euch mit ganzem Herzen, dass es euch gut geht.

Gestrandet und vergessen

Schließlich finde ich Zeit, das Erlebte zusammenzufassen. Der heutige Tag war ein Wechselbad der Gefühle. Heute hat uns unsere Wirtin eröffnet, dass das Hostel in zwei Tagen schließt. Dass wir dann auf der Straße stehen, tut ihr leid, aber sie hat ihre Anweisungen. Fast stündlich änderten sich die spärlichen Gerüchte und Informationen, die wir hier bekamen. Sind die Grenzen offen? Wo ist es besser, hier bleiben, nach Brasilien weitereisen, in eine andere Provinz fahren? Nun steht fest: Es gibt keine Busse mehr. Flüge schon gar nicht. Die anderen Gäste berichten Widersprüchliches. Wir machen uns sofort auf, Informationen einzuholen. Viele Kilometer laufen wir mehrfach zum Busbahnhof, zur Touristeninformation, zur Polizei, zur Fluggesellschaft Aerolinas Argentinas, zu verschiedenen Hotels und Hostels. Nach wie vor sind die Informationen widersprüchlich. Eins ist klar: Die Provinz Misiones wird eine zweiwöchige Quarantäne ausrufen und Reisende sind dabei nicht vorgesehen. Wir bekommen keine neue Unterkunft, wo auch immer wir nachfragen. Angeblich gibt es von Rio de Janeiro oder von Sao Paolo aus noch Flüge nach Europa, aber die Grenze zu Brasilien wurde im Laufe des Tages auch geschlossen. Ein blanker Hohn sind die Antworten der deutschen Auslandsvertretungen: Das deutsche Konsulat in Posadas hat nur eine Dame am Telefon, die weder deutsch noch englisch spricht, dafür sehr schnell spanisch. Bruchstückhaft verstehen wir, dass sie auch nichts weiß. Die deutsche Botschaft in Buenos Aires speist uns mit einer nichtssagenden Email ab. In keinem Wort wird auf unser Problem eingegangen, dass wir binnen Kürze obdachlos sein werden.

Gute Nachricht: Wir haben vielleicht – hoffentlich! ab morgen eine Unterkunft über AirBnB.

Reisen macht unter diesen Umständen keinen Spaß. Wir haben kein Problem damit, eine Quarantäne abzusitzen. Doch wenn hier die Hamsterkäufe losgehen, sind wir bestimmt die letzten die etwas abbekommen. Wer nicht mal einen Kühlschrank hat, kann sich schlecht versorgen bei 40 Grad.

Auf dem Weg nach Iguacu

Das goldene Morgenlicht streift über die Baumwipfel. Die Landschaft ist hügelig und in den Senken liegt an manchen Stellen noch ein leichter Schleier von Morgennebel. Schnurgerade zieht sich die Straße in einer breiten Schneise durch den Wald. Von einem zum anderen Horizont erscheinen Farbverläufe von verschiedenen Grüntönen. Die Erde ist tiefrot. Als die Sonne etwas höher steigt, erkenne ich: Es sind Flecken von Urwald, die stehen geblieben sind zwischen Baumplantagen, Weideland, Sojafeldern und entlang der Straße entlang ziehenden Siedlungen. San Ignacio, Aristobalde del Valle und Eldorado heißen die Dörfer im Bundesstaat Misiones. Häuser und Nebenstraßen machen auf mich einen pionierhaften Eindruck, auch wenn die Gegend zweifellos schon länger erschlossen ist. Viele Holzlaster, Tankwägen und Pickups sind auf der Straße unterwegs. Gern würde ich nachlesen, was ich mangels Netz auf später verschiebe. Mein Telefon teilt mir mit, dass es sich mittlerweile sowohl im uruguaischen als auch im brasilianischen und paraguaischen Netz einloggen wollte, ich soll doch noch die entsprechenden Roamingpakete kaufen. Wir befinden uns im letzten nordöstlichen Zipfel Argentiniens, der sich zwischen Paraguay und Brasilien wie ein Finger hochreckt. Über die Nacht gibt es nicht viel zu berichten, die Mitreisenden haben kaum geschnarcht, der Schaffner kam nur ein paar Mal um eine Haltestelle auszurufen und die Toilette ist jetzt kein angenehmer Ort.

Angesichts der schier endlosen Plantagen von Eukalyptusbäumen und Pinien vermute ich Übles und lese nach: Unter uns im Boden liegt der Acuifero Guarani, eines der größten Grundwasservorkommen weltweit. Dieser ist so groß wie Frankreich, Spanien und Portugal zusammen! Wie nicht anders zu erwarten, ist dieser unterirdische Schatz aktuell sehr gefährdet. Wie so viele Sauereien von der Weltbank finanziert, wurden Tiefbrunnen gebohrt und Wasserrechte privatisiert. Die Nutzungsrechte haben sich internationale Konzerne unter den Nagel gerissen. Warum hat man hier im Urwald Flächen gerodet?  Die schnellwachsenden Bäume versorgen die Papierindustrie in Europa und Japan mit Unmengen an Zellulose. Im tropischen Klima der Länder Brasilien, Uruguay, Paraguay und Argentinien wächst auf den riesigen Sojafeldern das Futter für die deutsche Massentierhaltung kostengünstig und schnell. Dass dabei der Lebensraum der Ureinwohner und einer einzigartigen Tier-und Pflanzenwelt zerstört sowie Jahrhunderttausende alte Wasserreserven angezapft werden, wird wissend in Kauf genommen, ebenso wie die Tatsache, dass die Pestizide aus der Sojakultur gleichzeitig die Grundwasserreserven zu vergiften drohen.

In Puerto Iguazu gerät unser Empfang am Busbahnhof zunächst recht ruppig: Eine extrem dicke (oder schwangere?) Angestellte pfeift uns energisch zurück, weil wir den Bahnhof einfach so quer über die Busfahrspur verlassen wollen. So geht das nicht! Erstmal die Treppe hoch, hopp, hopp! Das ist nämlich der offizielle Ausgang. Ob sie dabei aus Sorge um unsere körperliche Unversehrtheit handelte? Mein Verdacht ist eher, dass es ihr vielmehr darum ging, uns in Richtung der Buden zu lotsen, wo die touristischen Tagestouren und Andenken verkauft werden.

Eine kabarettreife Steigerung bietet sich anschließend im österlich geschmückten Café gegenüber dar. Nach fast 13 Stunden Busfahrt finden wir, wir haben uns einen Kaffee verdient und betreten hoffnungsvoll das Lokal. Ich sichere sogleich mit dem Gepäck einen Tisch, von wo aus ich den weiteren dramatisch-komischen Verlauf der Bestellung beobachte. Es beginnt mit dem Kampf um die Karte. Mehrere potentielle Kunden ringen um das Menü, alle haben sie es unterlassen, zuvor an einem entsprechenden Spender eine Nummer zu ziehen. Als schließlich meine Mädels eine Karte erhascht haben, gelingt es ihnen kurz später auch, einer der Bedienungen habhaft zu werden, die sich prompt anschickt, einen komplizierten und umfangreichen Bestellzettel auszufüllen. Heiliger Bürokratius, Schutzherr der Amtsstuben und Stempelkissenschläfer! Ein paar hilflose Blicke später stellt man sich an der einen oder anderen Ausgabe am Tresen an, nichts passiert, dann fällt der Blick auf eine Kasse… ah ja: Die junge Frau mit der Weihnachtsmütze nimmt den Zettel und das Geld, nein, sogar die Kreditkarte. Sie schreibt einen neuen Coupon aus, eine neue Odyssee beginnt am Ausgabetresen. Da! Wieder taucht eine bemützte junge Frau auf und reißt mit ein paar barschen, unverständlichen Worten einen kleinen Abschnitt des Coupons ab. Verwirrt setzt sich der weibliche Teil meiner Familie zu mir. Wir erwägen schon zu gehen, da kommt auch schon (eine gefühlte Ewigkeit später) unsere Bestellung quasi von selbst an den Tisch: Der Cappucchino trägt ein Gebirge aus Sahne mit einer roten Kirsche, dass man direkt vom Anschauen Völlegefühle bekommt; das Croissant ist gefüllt mit einer halbflüssigen Caramellcreme, die jeden deutschen Zahnarzt in Ekstase versetzen würde. Allein mein Café Cortado ist lecker, wenn auch viel zu klein. Noch einen bestellen? Lieber nicht.

Auch wir befinden uns im coranabedingten Ausnahmezustand – gesund, aber abgeklemmt im Urwald Nordargentiniens. Bald gibt es ein Update.

Entre Rios

Rosario

Die nationale Hauptstadt des Helado argentino, des argentinischen Speiseeises heißt Rosario. Das Eis schmeckt tatsächlich sehr lecker hier, kein Wunder bei 35° im Schatten. Ich ziehe trotzdem das hervorragende cerveza artesanal (Craftbeer) vor. Che Guevara, der sympathische Massenmörder, Revolutionär, Guerillakämpfer und Buchautor wurde hier im Jahre 1928 geboren. Leider haben wir weder sein Geburtshaus noch sein Denkmal gesehen, denn die Stadt ist zu Fuß nicht zu bewältigen. Fahrräder konnten wir uns keine ausleihen und auch die Benutzung der Stadtbusse wollte uns nicht gelingen. Taxis sind sehr teuer und Remises schwer zu bestellen. Gegen den Kontrollzwang von Behörden, Bank- und Verwaltungsangestellten kommen wir mitunter kaum an. Zum Bezahlen mit Kreditkarte oder um am Bike-sharing teilzunehmen braucht man stets ein Ausweisdokument, auf Onlineformularen und Chipkartenlesegeräten sollen wir ständig unsere Passnummern eintippen. Natürlich wissen wir diese inzwischen längst auswendig, was uns aber nichts hilft. Irrwitzig ist nämlich, dass die deutsche Kombination aus Buchstaben und Zahlen nicht vorgesehen ist, also lassen wir manchmal einfach die Buchstaben weg. Wenn das nicht funktioniert, müssen wir gezwungenermaßen bar bezahlen oder auf das Angebot verzichten. Bar zahlen wir sehr ungern, denn am Geldautomaten können wir kaum mehr als 2000 Pesos, etwa 28 € abheben. Dafür wird dann eine unverschämte Gebühr von bis zu 600 Pesos abgebucht, rund acht €. Ob sich mit diesem Geld das marode Bankwesen bereichert? Für soziale Zwecke jedenfalls wird es wohl nicht investiert, die Straßen sind voller armer Leute.

Rosario liegt am Rio Parana. Rund 350 Kilometer vor seiner Mündung ist er immer noch tief genug für riesige Ozeandampfer. Der Nationalheld Manuel Belgrano hisste an seinem Ufer im Jahre 1812 erstmals die argentinische Nationalflagge, ein gigantomanisches Flaggenheiligtum soll daran erinnern. Zum Schwimmen eignet sich der Parana leider weniger. La Florida soll der schönste Strand der Stadt sein – ich habe in meinem ganzen Leben noch keinen hässlicheren gesehen. Wir sitzen eingezwängt auf einem vertrockneten Stückchen Rasen. Dicht neben uns lärmt eine Horde Kinder, das rostige Schaukelgestell quietscht misstönend und bildet eine interessante Klangcollage zusammen mit dem ohrenbetäubenden Bass der Outdoordisco. Eben hat ein Paar im Rentenalter auf der anderen Seite Platz genommen; unbeeindruckt vom Lärm packen sie Klappstühle und Kühltaschen aus. Wahrscheinlich sind sie beide taub. Wir beschließen, uns im Fluss abzukühlen, doch zuvor müssen wir auf dem glühend heißen Sand im Zickzack um hunderttausend Schirme sprinten. Angenehm kühl ist das Wasser mit der Farbe von Milchkaffee, man meint es zischen zu hören, als wir eintauchen. Der feinkörnige Schlamm am Grund saugt förmlich an unseren Füßen. Vorwitzig tauche ich unter der massiven Bojenkette hindurch, um ins tiefere Wasser zu gelangen – doch das ist nicht gestattet. Sobald mein Kopf wieder auftaucht, pfeift mich der Rettungsschwimmer auf seinem Turm warnend aus. Wehe! Hier ist das Wasser schon hüfttief, also lebensgefährlich.

Nachdem wir unsere Pässe viermal vorgezeigt haben, sitzen wir endlich wieder im Bus. Unser Weg führt heute weiter nach Colon, wo wir den Nationalpark El Palmar besuchen wollen. Die Autobahn verläuft zunächst auf einem hohen Damm zwischen Flüssen, Seen und Sumpfgebieten. Entre Rios heißt die Gegend, also zwischen den Flüssen. Tatsächlich fahren wir etwa 300 Kilometer vom Rio Parana zum Rio Uruguay, der die Grenze zum Nachbarland darstellt. Wo die Feuchtgebiete trockengelegt wurden, erstrecken sich riesige Weideflächen und Getreidefelder bis zum Horizont. Vor allem Rinder, ein paar Schafe sind zu sehen; Reis, Mais, Weizen und Unmengen an Soja werden angebaut.

Colon begrüßt uns mit einer feinen Patina aus Staub. Häuser, Autos, Pflanzen, Straßenhunde und bald auch wir sind von Staub bedeckt. Genauso wie die Landschaft rundherum ist alles knochentrocken und staubig. Nur die wichtigsten Straßen sind hier asphaltiert, alle anderen bestehen aus Staub. Jedes Fahrzeug zieht eine gigantische Schleppe aus Staub hinter sich her. Nur am Ufer des Rio Uruguay gibt es einen schmalen Streifen aus feuchtem Staub, dahinter beginnt der Strom. Fast zweieinhalb Kilometer ist er hier breit, man kann hinübersehen nach Uruguay.

Eins ist sicher: Colon ist kein besonders bekanntes touristisches Ziel, vielmehr „off the beaten track“. Umso besser. Dank unserer Tochter haben wir dieses Juwel Argentiniens entdecken dürfen, denn sie hat sich dieses Eck ausgesucht. Im Nationalpark sind wir fast allein mit den Wasserschweinen, Adlern und Schmetterlingen. Die sympathischen Capivaras stehen in Gruppen mitten in schlammigen Tümpeln, bei ihren Hinterteilen steigen immer wieder viele Bläschen auf. Gänzlich entspannt und ohne jede Hemmung furzen sie, sie haben kein Problem damit. Mit dem Remis, einer Art Privattaxi haben wir uns hin und zurück fahren lassen. Ein absolutes Highlight war das Baden am menschenleeren Strand des Rio Uruguay: Wenn auch das Wasser nicht perfekt blau und klar ist, der Strand ist einsam mitten in der hitzeflirrenden Natur des Nationalparks.

An den Wechselkursen beobachten wir, dass der argentinische Peso praktisch täglich abgewertet wird. In den paar Tagen seit wir Buenos Aires verlassen haben, ist der Euro von knapp 70 auf nunmehr 84 Pesos gestiegen. Für die argentinische Wirtschaft ist das schlimm, für uns dagegen gut. Wir müssen schauen, dass wir zwar stets über einen kleinen Vorrat Pesos verfügen, dieser aber bloß nicht zu groß, weil sonst rasch wertlos wird. Währenddessen ist der Niedergang der hiesigen Wirtschaft nicht zu übersehen. Viele Häuser und Geschäftsräume sowie Grundstücke stehen zum Verkauf. Besonders kleine und mittlere Unternehmen überstehen den neoliberalen Wirtschaftskurs der Regierung nicht. In einem Artikel lese ich über die „empresas recuperadas“, nach Insolvenz von den Mitarbeitern besetzte und in eigener Regie weitergeführte Betriebe. Es ist zwar nicht die Regel, dass so etwas passiert, aber die Zahl solcher Ereignisse steigt an. Radiosender, Schulen, Kliniken und Fabriken werden von (Mit-)Arbeiterräten übernommen. Ein Zukunftsmodell?  Mit wachsender Verunsicherung und aufkeimender Sorge verfolgen wir auch die Nachrichten über die Corona-Pandemie. Unsere Familie daheim ist noch nicht betroffen, hoffentlich bleibt das so. Werden wir unsere Reise wie geplant fortsetzen können, wenn nach und nach die Ländergrenzen geschlossen werden? Wird unsere Tochter planmäßig nach Deutschland zurückkehren oder ist es besser, wenn sie lieber länger bei uns hier in Südamerika bleibt? Aber es ist sinnlos, sich Sorgen zu machen, also verbringen wir unseren letzten Tag mit unserem zugelaufenen Teilzeithund Perrito faul am Strand des Rio Uruguay.

Buenos Aires

„Va a Avenida Mexiko?“, frage ich den Busfahrer in meinem glockenklaren Spanisch. Seine Antwort ist ein langgezogener Krächzlaut, aber irgendwie scheint die Vokabel Mexiko auch darin vorzukommen. Hätte ich doch eins der Mädels fragen lassen! Meine Frau und meine Tochter haben diese Sprache schließlich gelernt. Wir steigen ein. Schließlich hat mir doch meine satellitengestützte Navigationsapp glaubhaft versichert, wir müssten in den 60er Bus einsteigen. Ferner, dass der fragliche Bus einmal pro Minute fahren würde. Ha! Dass ich nicht lache. Die ersten fünf Busse mit der entspechenden Nummer lassen sich erstmal gar nicht herab, für uns anzuhalten. Dann lange nichts, es fahren alle anderen, nur kein 60er. Und jetzt der arme Mann mit dem Halsproblem. Ob er wohl Corona hat? Der Virus , der halb Europa lahmlegt, ist längst auch hier angekommen. Nein, wir sind uns einig, er hat mich nur verbessert: „Calle Mexiko“, nur spricht man das halt nicht wie spanisch [ˈka.ʝe] aus, sondern eher wie ein gekrächztes, gleichzeitig weiches, verschwurbeltes [ˈkak.se]. Denn unsere Straße ist eine Calle, keine Avenida. Hätte ich ja wissen müssen. Der Gute ist definitiv nicht krank, sondern vielmehr sehr fit und freundlich. Knapp eine Stunde und rund 40 Haltestellen später im dichtesten Berufsverkehr und bei komplett vollem Bus dreht er sich um und macht uns darauf aufmerksam, dass wir jetzt aussteigen müssen.

Seit ein paar Tagen schon halten wir uns in Buenos Aires auf. Die Stadt hat einen wunderbaren Charme und ist voller Gegensätze: Jung, lebendig und leidenschaftlich wie der Tango, der hier geliebt und gelebt wird; alt-ehrwürdig getragen und voller Prunk sowie gleichzeitig arm, geflickschustert und improvisiert. Eine gewisse Melancholie ist zu spüren, denn die Reichtümer dieses schönen Landes werden so gar nicht gerecht verteilt und genutzt. Für uns ist Buenos Aires ganz etwas besonderes, denn unsere Tochter ist hierher gekommen, um uns zu besuchen. Gemeinsam wollen wir die nächsten Wochen Argentinien, Uruguay und vielleicht Brasilien bereisen.

Die japanischen Gärten im noblen Stadtteil Palermo haben uns sehr gefallen, aber der ehemalige Zoo fast noch besser. Dem privaten Betreiber wurde vor ein paar Jahren die Konzession entzogen, nun wird das Gelände in einen EcoParque umgewandelt. Ein paar Tiere gibt es noch, die überwiegend frei  zwischen und durch die Gehege herumstreifen. Besonders hat es uns der Reha angetan. Für uns sieht es aus wie eine Mischung aus Reh und Hase, deshalb Reha. Später stellt sich heraus, dass die Maras oder Großen Pampashasen in die Ordnung der Meerschweinchen gehören.

Auf einer Walking-Tour wandern wir durch das Hafenviertel La Boca. Einst war es eine Gegend, wo die Armen lebten; heute wandelt es sich langsam zum In-Viertel. Die Randgebiete des Barrios sollte man jedoch nur mit Vorsicht und keinesfalls alleine oder nachts betreten. Im touristischen Kerngebiet Caminito dagegen drängeln sich Touristen aus aller Welt. Auf der Straße stehen überall unübersehbar Figuren berühmter Personen herum: Vor allem x-fach der Fußballspieler Diego Maradona, der aus diesem Viertel stammte. Man glaubt es kaum, allein im fußballbegeisterten Buenos Aires gibt es sechs Maradona-Kirchen: Insbesondere zum Heiraten sind diese beliebt. Die Besonderheit dabei ist, dass Jesus dort die Züge des Fußballers trägt, die Madonna die seiner Mutter. Mehrfach begegnet uns Papst Franziskus, der Bischof der Stadt war und ein besonderes Herz für die Armen hat, ebenso wie Evita Peron, die früh verstorbene Gattin des Präsidenten. Noch heute ist sie bei vielen Leuten beliebt und wird verehrt. Überhaupt haben die Argentinier ein großes Herz und viel für Verehrung übrig, so gibt es mehrere inoffizielle wundertätige Heilige, Gauchito Gil etwa, eine Art Landarbeiter-Robin Hood, für den man überall im Land Schreine errichtet.

Abends bereiten wir im Hostel mit Luis und Sebastian aus Kolumbien, Nigel aus Schottland und Ben aus Straubing Arepas zu. Die Bewohner sowohl Kolumbiens als auch Venezuelas beanspruchen die Teigtaschen aus Maismehl als jeweiliges Nationalgericht. Angeblich ließen sich schon die kannibalischen Kariben Arepas mit Menschenhack schmecken. Wir können den Streit auch nicht klären, belassen es heute aber bei der rein vegetarischen Variante.

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Ushuaia, Tierra del Fuego und das Ende der Welt

Fin del mundo, Ende der Welt heißt die Gegend. Dort liegt ein 630 Quadratkilometer großer Nationalpark, der die südlichsten Urwälder unseres Planeten beherbergt. Heute habe ich ein kleines Nickerchen gehalten auf der Wiese vor dem See. So lieblich und angenehm war das Wetter, wer hätte das gedacht? Knappe 960 km sind es von hier noch bis zur Antarktis. Dennoch ist die Landschaft einladend: Wälder aus südlichen Buchen und rhododendronartigen Sträuchern säumen den Weg, die Strände des Südpolarmeeres sind wild und der Kies besteht aus schieferartigem Bruchgestein gemischt mit Muschelschalen. Im Wasser schwappt der Kelp mit jeder Welle hin uns her, in der Ferne leuchten die Schneehauben der Berge. Leider ist der Weg entlang der Küste ziemlich feucht und viele Matschlöcher halten uns auf, die im dichten Unterholz kaum zu umgehen sind. Für die rund acht Kilometer brauchen wir dann tatsächlich auch fast vier Stunden. Die krüppeligen Buchen sehen allesamt aus wie Baumbarts kleine Brüder im Fangornwald. Flechten gibt es hier auch, teils auch riesige mistelartige Aufsitzerpflanzen. Große Gallen sitzen an jedem dritten Stamm oder Ast, die Bäume sind gewiss vielfältigen Belastungen durch Klima, Wind, Trockenheit ausgesetzt. Wir sind es auch, das ewige Auf und Ab entlang des Küstenpfades zehrt an den Kräften. Die Ausblicke aufs wild schäumende Meer entschädigen jedoch für die Strapazen.

Unsere Zimmernachbarn, ein Paar aus Oregon sind gerade von einer Antarktiskreuzfahrt zurück. Sie berichten, dass sie bei den Landgängen auf dem Kontinent des Südpols ihre dicken Überlebensanzüge Schicht für Schicht ausgezogen haben, weil es viel wärmer war als erwartet und angekündigt.

Wir buchen einen Halbtagesausflug per Schiff auf dem Beagle-Kanal. Die Anbindung des gesamten pazifischen Raumes von der Westküste Nord- und Südamerikas über Australien und die Südsee an die europäischen Mutterländer lief vor dem Bau des Panamakanals über die Südspitze Südamerikas. Der Beaglekanal – eigentlich eine Meerenge oder ein Fjord, kein Kanal – war die bevorzugte Passage für alle Segelschiffe, die die Umrundung des berüchtigten Kap Hoorn vermeiden wollten. Später, als die Schiffe mit Dampf und schließlich mit Dieselmotoren auch gegen den Wind navigierten, fuhr man bevorzugt durch die Magellanstraße ein paar Hundert Kilometer weiter nördlich. Je weiter südlich, umso brutaler herrschten Wind und Strömung.

Wir lernen weitere Einzelheiten über die Ureinwohner Feuerlands. Diese Menschen besiedelten die unwirtlichen Gebiete seit Jahrtausenden friedlich und lebten als Sammler und Jäger von Robbenfleisch, Muscheln und Wurzeln. Mit den neuzeitlichen Entdeckern kamen vor allem Krankheiten und Alkohol, mit beiden konnten die Yamanas, Selk’nam, Haush und die anderen Stämme nicht umgehen. Später ließen die Großgrundbesitzern die Indianer systematisch durch Kopfgeldjäger töten oder vergiften. Von etwa 3000, die hier zur Zeit der Ankunft der ersten Europäer lebten, blieben zehn Jahre (1890) später noch 1000. Bis 1910 waren es nur noch 100. Heute huldigen den Indianern Wandgemälde.