Unterwegs

Seit sechs Wochen und einem Tag sind wir jetzt unterwegs. Länger als auf allen vorherigen Reisen. Wir haben kein Heimweh. Es gibt ja auch kein Daheim mehr. Außerdem haben wir ja uns. Komischerweise sagen wir zu unserer jeweiligen Bleibe „Daheim“, auch wenn wir dort nur eine Nacht verbringen. Angenehmer ist es, zwei oder drei Nächte an einem Ort zu sein. Dann bildet sich ganz schnell eine Zelle des Gewohnten, man ist dann nicht ständig auf der Suche nach der nächsten Toilette, Trinkwasser, WLAN. Sicher fehlen uns unsere Familie und unsere Freunde ein wenig. Aber heutzutage bleibt man ja auch am andern Ende des Globus in Kontakt. Und mit der Oma telefonieren wir regelmäßig, sobald wir eine gute Internetverbindung haben.

Butterweicher Lao-Pop umspült unsere Ohren. Zum Glück nur recht leise, unten beim Fahrer muss es viel lauter sein. Immer wenn wir eine besonders tückische Bodenwelle erwischen, kommen durchtrennte Kabelenden in Kontakt und es wird für ein paar Sekunden auch bei uns oben laut. Der Lokalbus sieht ein bisschen aus wie das feuerrote Spielmobil, er soll für die gut 300 Kilometer um die fünf Stunden brauchen, aber keiner weiß das so genau. Schlussendlich brauchen wir neun Stunden. Ich weiß nicht, wann ihr das letzte mal neun Stunden auf einer durchgesessenen Sitzbank in einem Bus ohne Klimaanlage bei knapp 40°C zugebracht habt.

Es ist ein riesiger roter Doppeldecker. In der unteren Etage verfügt er über große Frachträume, die selbstverständlich komplett voll gestopft sind, Kisten, Kartons, Bananenstauden, ein Moped, Bambusmatten und ich weiß nicht was sonst noch. Oben sind Sitzbänke montiert. Wir sitzen ganz vorn und haben einen perfekten Blick auf Landschaft, Straße, Schlaglöcher. Eben überqueren wir die gelbbraunen Fluten des Nham Nghun Flusses. Im seichten Uferwasser stehen Fischer. Sie halten lange Stäbe wie Angeln, an denen quadratische Netze hängen. Die Fische, die hier leben, dürften blind sein. Jedenfalls brauchen sie keine Augen.

In jedem dritten Dorf hält der Bus, fliegende Händler mit Obst, Sandwiches, Bilderbüchern, Toilettenartikeln wie Zahnpasta und Rasierwasser steigen zu. Die einheimischen Reisenden werden ziemlich aufdringlich bedrängt zu kaufen. Die Verkäufer legen ihnen teilweise die Waren einfach in den Schoß. Zum Glück lassen sie uns in Ruhe. Hier sind wir die einzigen Westler. Manchmal hält der Bus auch, weil ein Paket am Straßenrand liegt. Dieses wird dann mitgenommen, vom Schaffner beschriftet und vielleicht auch später beim Empfänger ausgeladen.

Die Landschaft ist zunächst recht eben: Wälder, Farmen, kleine Dörfer wechseln sich ab. Häufig kommen wir an Teichen vorbei, wo offenbar Fische gezüchtet werden. Reisfelder sehen wir wenige. Fern am Horizont wächst langsam ein Gebirge immer höher, je näher wir kommen. Hier oben im schwankenden Oberdeck des Fahrzeugs und bei dem erbärmlichen Zustand der Straße kommen wir uns vor wie beim Kamelreiten. Warum schreibe ich eigentlich so viel übers Busfahren? Na ja, neben Schlafen dürfte es die Tätigkeit sein, mit der wir am meisten Zeit verbringen. Gefolgt vom Suchen nach der nächsten Unterkunft. Ausflüge zu Sehenswürdigkeiten sind auch auf Reisen eher die Ausnahme. Besonders in Laos, wo die Busfahrten eben ein wenig länger dauern.

Eben ist die Schule aus: Viele Kinder sind mit Fahrrädern auf der Straße unterwegs. Alle Jungs tragen dunkle Hosen und weiße Hemden. Die Mädchen blaue Kleider und weiße Blusen. Schultaschen haben sie keine, vielleicht gibt es hier keine Hausaufgaben?

Eine Stunde später ist das Gebirge fast zum Greifen nah von links an die Straße herangerückt, rechts schimmert ab und zu der Mekong durch die Bäume. Hier ist der Grenzfluss zu Thailand drei- oder viermal so breit wie zuletzt in Vientiane. Er beschreibt einen riesigen Bogen, unser Weg folgt diesem. Der Himmel trägt ein blauweißes Gewand, die Schäfchenwolken bewegen sich nicht. Wir schwitzen.

Die Gegend wird immer einsamer, der Verkehr spärlicher. Je weiter wir uns von der Hauptstadt entfernen, desto weniger ist los. Noch eine lange Brücke über einen riesigen Fluss, den Nam Kading, der in Blickweite in den Mekong mündet. Die Straße verlässt jetzt den mächtigen Strom und biegt östlich in bergiges Gelände ab. Die Niederungen waren zuletzt sumpfig feucht, überall stehen Tümpel. Der Fluss hat Hochwasser, die Kronen überschwemmter Bäume ragen aus der schlammigen Brühe. Das Kamel unter uns bockt. Wir halten jetzt direkt auf die Berge zu. Eine kilometerbreite Schneise klafft im Regenwald: Hier wurde auf einer riesigen Fläche jede Vegetation abgeholzt und der bloße Fels freigelegt. Ein Steinbruch, ein Tagebergbau? Unterhalb im Berghang sind durch die Erosion Canyons ausgewaschen, die ich aus mehreren Kilometern Entfernung sehen kann. Ich versuche meinen Sitznachbarn zu fragen, was da geschieht, aber er versteht mich nicht oder er weiß es auch nicht. Wieder einmal hält der Fahrer, weil er irgendetwas an einem Stand am Straßenrand kauft; Räucherstäbchen vorhin, etwas Bier jetzt. Da biegt ein schwer beladener Truck auf unsere Straße ein. Beim Beschleunigen stößt er dicke, schwarze Rauchwolken aus. Für ein paar Sekunden ist die ganze Kreuzung vernebelt.

Was heißt Kerepek Kentang? Das errät keiner! Es ist fast lautmalerisch… Wir hatten vorgestern eine Rolle Pringles gekauft, aber nicht einfach normale, sondern die guten mit Salz und Algen – wie sich beim Verzehr und Studium der Packung herausstellte. Beim Busfahren hat man viel Zeit. Kerepek Kentang mit Garam und Rumpai Laut!
Ich kann schon laotisch. Wenn das Essen besonders gut geschmeckt hat, wie gestern Abend das Entenhack mit Minzsoße und Basilikum (sehr spicy!), dann sage ich „Sepp lai“, und die Köchin strahlt. Das habe ich beim Abendessen in der Thakhek Travellodge wieder ausprobiert: Der gleiche Effekt. Ein paar Brocken der Sprache und die Menschen merken, dass du Interesse an ihrem Land hast. Von Thakhek aus kann man sehr gut die umliegenden Berge und Höhlen erkunden. In der trockenen Jahreszeit bietet sich eine mehrtägige Rundfahrt durch die Berge an. Leider haben wir dafür nicht die richtige Jahreszeit erwischt. Mal sehen, wie weit wir morgen kommen.

Thakhet, 14.09.2019, 8.00 Uhr

Infrastruktur

Die nächste Etappe unserer Reise ist 213 Kilometer lang. Wir brauchen dafür viereinhalb Stunden. Daraus kann man ganz leicht auf den Zustand der Straßen schließen. Überhaupt lehrt uns Laos Geduld. Hier geht alles sehr langsam. Wenn wir uns etwas zum Essen bestellen, wählen wir meist beide das gleiche Gericht, um zusammen essen zu können. Gekocht wird nämlich immer frisch, und zwar eine Mahlzeit nach der anderen. Nie zwei gleichzeitig. Jeder scheint unendlich viel Zeit zu haben, keiner hat es eilig.

Die Landschaft ist atemberaubend: Wir fahren wieder sehr kurvige Passstraßen mit vielen Spitzkehren. An jeder Kurve gibt es einen Panoramablick auf bewaldete Berge, deren Gipfeln in den Wolken stecken. Gerade hat der Fahrer die Klimaanlage ausgeschaltet und die Fenster geöffnet. Die Straße ist so steil, dass der Motor die Steigung sonst nicht schaffen würde. Zum Glück hat er jetzt aufgehört, zu telefonieren. Die erste Stunde der Reise hatte er noch ununterbrochen das Handy am Ohr. Wahrscheinlich gibt es jetzt kein Netz mehr. Als wir auf der anderen Seite des Gebirges wieder herunter fahren, passieren wir mehrere Stellen, wo die Passtraße weggespült oder von einer Lawine weggerissen wurde. Gelegentlich fällt der Blick seitlich der Straße ins bodenlose Nichts. Abgestürzte Autowracks sehen wir erst weiter unten, hier ist schlicht kein Platz, wo sie liegen bleiben könnten.

Es ist in diesem Land nicht ganz einfach, den Blog zu pflegen, denn die Internetverbindung ist sehr langsam und wird regelmäßig unterbrochen. Im Gegensatz zum Internet ist die Stromversorgung in Laos sehr zuverlässig. Bisher haben wir noch keinen einzigen Stromausfall erlebt. Selbst in den entlegeneren Bergregionen Thailands gab es zwar Internet per Glasfaser, aber öfters Stromausfälle. Hier ist es genau anders herum. Übrigens: Ob der Strom öfter wegbleibt, erkennt man schon im Vorhinein an den Toiletten. Kritisch ist es immer da, wo im Klo ein großer Bottich mit einer Schöpfkelle bereit steht, das ist dann die Reservespülung. Ohne Strom gibt es über kurz oder lang auch keinen Wasserdruck mehr.

In ganz Luang Prabang, immerhin Provinzhautstadt, gibt es keine Ampel. Der Verkehr läuft überwiegend per Zweirad. Auf ein Auto kommen sicher zehn Mopeds und Roller. Auch kleinere Motorräder sieht man gelegentlich. Viele Mopeds sind mit abenteuerlich konstruierten Beiwägen versehen. Um größere Lasten oder komplette Großfamilien zu transportieren, schraubt oder schweißt man ein Gestell aus Baustahl, Flacheisen oder Schrotteilen, die gerade zur Hand sind am Rahmen fest, bastelt irgendein drittes Rad dazu und los geht’s. Der TÜV bei uns hätte seine helle Freude. Die meisten Autos sind schon älter und stark zerschlissen: Man sieht vor allem Toyotas, Hyundais, Kia und Isuzu, aber auch brandneue Pickups von Nissan sowie ältere Geländewagen von Ford. Die TukTuks hier sind ganz anders als die wir bisher sahen. Sie ähneln eher einem Trike: Vorn ist es ein hochgebocktes Motorrad, der Fahrer sitzt meist aber auf einer Art selbstgebasteltem Sessel. Hinten gibt es entweder eine abenteuerlich schiefe Ladefläche oder zwei bis drei Sitzbänke in variabler Anordnung.

Überhaupt ist Improvisationstalent gefragt. Gerüste auf Baustellen werden aus allerlei Holzteilen zusammengeknotet, vor allem Bambus ist das Universalmaterial. Elektrische Leitungen werden angestückelt, wie man es gerade braucht. An jedem Laternenpfahl hängt ein dichtes Gewirr von Leitungen. Wenn gerade nichts anderes zum Abdichten und Isolieren parat ist, tut es auch eine alte Plastikflasche. Über das lose Kabelende gesteckt, hält das mindestens bis zum nächsten stärkeren Wind.

11.09.2019, Vientiane, 15:15 Uhr

Pollonaruwa

Nach ein wenig Herumfragen finden wir den richtigen Bus, der Fahrer öffnet für unsere Rucksäcke eine Klappe auf der linken Außenseite des Fahrzeugs. Ich hoffe bloß, dass das Gepäck nicht total verdreckt und zerschlissen wieder heraus kommt. Werkzeug und Ersatzschläuche liegen auch in diesem staubigen Gelass. Ich frage noch vor dem Einsteigen, wann die Fahrt losgeht. Darauf blickt der Mann nachdenklich auf sein nacktes Handgelenk und meint nach ein paar Sekunden: twenty minutes. Also Zeit genug, etwas Obst und ein Gebäck zum Frühstück zu besorgen. Wieder kostet der Bus lächerliche 200 Lkr, (~1€) für 140 Kilometer, dafür sind wir abermals von 7:30 bis 12:00 unterwegs. Am Bus Stand in Pollonaruwa werden wir diesmal nur von einer kleinen Traube TukTukfahrern erwartet. Einer davon gewinnt unser Vertrauen.

Er bringt uns in sein Guesthouse am äußersten Rand der Siedlung zwischen einem Wäldchen aus Mango- und Papayabäumen, Kokospalmen, Bananenstauden und einem großen Reisfeld, das sich bis zum Damm des großen Stausees Bendiwewa erstreckt. Die Lodge hat nur vier Gästezimmer und wir sind die einzigen Gäste. Die Ruhe hier bietet eine angenehme Abwechslung zu der sonstigen lärmigen Betriebsamkeit überall. Der Familienbetrieb wird von Onkel und Neffe geführt, beide fahren TukTuk und sichern sich so ab und zu Gäste. Daneben gibt es noch den guten Hausgeist, trotz seiner eher mäßigen englischen Sprachkenntnisse ein sehr gesprächsfreudiger junger Mann, der hier putzt, kehrt und auf der Terrasse Bollywoodmovies anschaut. Er ist nicht der hellste Stern am Firmament, aber sehr freundlich und tierlieb. Schließlich gibt es noch Hinkebein, einen großen blonden Hund mit verkrüppelten Vorderbeinen, der stets mit einem Stupser seiner Schnauze Streicheleinheiten fordert.

Den Nachmittag verbringen wir mit einer längeren Radltour entlang des Sees und der Bewässerungskanäle, wo die Menschen Wäsche waschen und sich baden. Die Stadt ist so weitläufig, dass wir uns ein wenig verfahren und erst in der Dämmerung wieder nach Hause finden. Unser Hauswirt fragt uns schon auf der Fahrt, was wir essen möchten. Es gibt nämlich ein Restaurant, wo Fried Rice gemacht wird, eines wo es Rice Curry gibt und schließlich Pizza Hut. Letzteres kommt für uns nicht in Frage, obwohl wir mittlerweile die singalesische Speisekarte schon mehrfach rauf und runter gegessen haben. Generell kann man die hiesigen Restaurants nicht mit unseren vergleichen. Zumindest nicht die in unserer Preisklasse. Mit riesigen knallbunten Leuchtreklamen wird der zur Straße offene Laden beworben. Meist gibt seitlich einen (wegen der Fliegen) mit Glasscheiben abgetrennten Küchenbereich, wo man den armen Köchen bei der Arbeit zuschauen kann. Show Cooking in der Sauna, sozusagen. Der Gastraum ist wenig gastlich, man sitzt meist auf Plastikstühlen unter Leuchtstoffröhren. Wer will da schon länger sitzen bleiben? Bezahlt wird gleich nach dem Essen beim Chef, der wiederum abgesondert hinter seiner Kasse auf einem erhöhten Sessel thront. Mag sein, dass die Lokale in den exklusiven Hotels wohnlicher gestaltet sind. In Touristengegenden entlang der Hauptstraßen speisten wir auch schon in etwas gemütlicheren Kneipen; meist waren dies aber Ein-Frau-Betriebe und der Service entsprechend schleppend. Gestern erst hatte ich in so einem Laden ausgezeichneten Prawn Fried Rice, also gebratenen Reis mit Gemüse und Garnelen. Die Bedienung verschwand gleich nach Aufnahme der Bestellung nach hinten zum Kochen und tauchte auch nicht mehr auf, bevor das Essen fertig war. Andere Gäste hätten solange Pech gehabt. Bier gibt es übrigens nur auf Nachfrage; auf der Karte steht es nie. In überwiegend christlich bewohnten Gegenden hat man gute Chancen auf ein Lion Lager, an touristisch entwickelten Stränden ist es sowieso kein Problem, da gibt es sogar Cocktails. Als ich in Jaffna nach einem Bier zum Abendessen fragte, meinte der Kellner das sei kein Problem, er würde schnell eines besorgen. Ich weiß nicht, ob er sich wirklich auf sein Moped gesetzt hat und zum nächsten Wine & Liquor Shop gedüst ist oder vielleicht doch irgendwo einen kleinen Vorrat im Kühlschrank hatte. Das Bier kam jedenfalls nach ein paar Minuten und war gut gekühlt recht genießbar.

Polonnaruwa ist die letzte wichtige Stätte im kulturellen Dreieck. Hier war im 11. Und 12. Jahrhundert der Königshof, nachdem Anaradhapura von den Herrschern aufgegeben wurde. Ähnlich wie dort erstrecken sich die Ausgrabungsstätten über etliche Kilometer, am besten lassen sie sich per Fahrrad erkunden. Schon früh radeln wir los und versorgen uns noch mit eisgekühltem Wasser. Der Eintritt ist mit 4000 LKR (~20€) ziemlich gesalzen, doch die Ruinen sind wirklich sehenswert. Königspaläste, Bäder, Ratshallen, Mönchskloster, Stupas, sitzende, stehende und liegende Buddhas sowie Hinduschreine verteilen sich auf einer großen lichten Waldfläche. Der Tag ist flirrend heiß und wir sind dankbar, die meiste Zeit im Schatten gehen oder radeln zu können. An jeder Sehenswürdigkeit lauern lästige Andenkenverkäufer und diebische Affen – einer klaut mir tatsächlich eine Tüte mit Rotis (kleine Fladenbrote) aus der Außentasche meines Rucksacks.
Am besten gefallen mir die kunstvollen Steinreliefs an den Ruinen: Löwen, Elefanten, Büffel und Mataras, das sind krokodilartige Fabelwesen mit Stoßzähnen und Rüsseln, die oftmals Treppenläufe säumen und aus deren weitaufgerissenem Maul eine riesige, aufgerollte Zunge quillt, die als Balustrade für die Treppe dient.

Die historischen Stätten waren jahrhundertelang in Vergessenheit geraten und vom Dschungel überwuchert. Erst im 19. Jahrhundert stolperte ein britischer Offizier über die Relikte, später wurden die Stätten vom Bewuchs freigelegt, später archäologisch gesichert und restauriert. Ständig müssen Arbeiterinnen die Flächen mit Besen kehren und junge Pflanzen entfernen, sonst würde die Vegetation binnen Monaten die historischen Reste wieder verschlingen. Wir beobachten, wie die Wurzeln der Würgefeige Mauern sprengen, Termitenbaue wachsen in Bäume, Terassen, Treppen hinein.

Uppuveli und Trincomalee – der Osten

Von Jaffna nach Trincomalee (237km) fahren wir per Bus in sechs Stunden für 350 LKR (~1,75€). Der Bus ist billig, viel Komfort kann man auch nicht erwarten. Eigentlich gar keinen. Es gibt keine A/C, keinen Platz, keine Ruhe. Der Bus ist laut, die Gespräche der Mitreisenden sind lauter, aber die ohrenbetäubende Musik ist am lautesten. Es scheint, als habe sich der Fahrer fest vorgenommen, mit seiner Bollywoodmusik alle Fahrgäste ertauben zu lassen. Leider habe ich meine Ohrstöpsel irgendwo unerreichbar im Rucksack.
Die Lanka Ashok Busse sind alle gleich aufgebaut: Das Cockpit vorn rechts ist großzügig bemessen, hier thront der Chef. Mit den Fahrgästen hat er nichts zu tun, er fährt. Mittig neben ihm die Abdeckung des riesigen Dieselmotors. Dort werden bei Überlandfahrten die sperrigsten Gepäckstücke abgelegt, zum Beispiel unsere übergroßen Rucksäcke. Meiner ist stets der größte, folglich immer zuunterst. Über der zweigeteilten Frontscheibe ist ein Schrein befestigt, der fünf kleine mit Blumen geschmückte Nischen für alle notwendigen Gottheiten enthält. Links der elefantenköpfige Ganesh, daneben Krishna, ganz rechts Buddha, daneben die Jungfrau Maria mit dem Kinde, das mittlere Abteil enthält drei hinduistische Gottheiten, die ich nicht identifizieren kann. In einem anderen Bus habe ich zusätzlich noch ein Bild der Kaaba gesehen. So ist in jedem Fall für eine gute Fahrt gesorgt. Das ist auch gut so, die Fahrweise erinnert stark an den fahrenden Ritter in Harry Potter. Wenn der enge Mittelgang zwischen den winzigen Sitzreihen, rechts drei, links zwei Plätze, nicht von stehenden Fahrgästen überquillt, habe ich einen guten Blick nach vorn durch die Frontscheibe. Was ich sehe, ist überwiegend beängstigend. Busse sind nämlich generell die schnellsten Fahrzeuge überhaupt auf der Straße. Unter ständiger Zuhilfenahme der überlauten Hupe wird ununterbrochen überholt: Mopeds, TukTuks, Lastwagen, sogar Pkws – dabei ist es völlig unerheblich, ob Gegenverkehr kommt oder nicht. Zum Glück sind die Überlandstraßen fast überall so gut ausgebaut, dass auf jeder Seite ein knapp einen Meter schmaler Ausweichstreifen so manchen Zusammenstoß verhindern hilft. Nichtsdestoweniger verdient die umsichtige Fahrweise der meisten Fahrzeuglenker Anerkennung: Im allerletzten Moment öffnet sich für bedrängte Roller- oder TukTukfahrer stets eine Lücke zwischen den dahinrasenden Wänden aus Stahl und Blech. Radfahrer fliehen meist ohne viel Aufsehen ins Bankett.

Bewundernswert ist auch der Schaffner: Mit akrobatischer Leichtigkeit windet er sich auch bei den übelsten Kurvenkombinationen und Schlaglochstrecken ohne Schwanken zwischen den Fahrgästen hindurch, die sich an Stangen, Griffen und Nachbarn festklammern. Er berechnet jedem in Sekunden den richtigen Tarif, wechselt hingegebene Geldscheine, erinnert Ausländer, am rechten Platz auszusteigen und erscheint im nächsten Moment wie von Geisterhand wieder am anderen Ende des Busses.

Im Norden und Osten der Insel passieren wir immer wieder schwer bewaffnete Militärposten. Die aufmunternden Schilder „Future Needs Forgiveness“ lassen schon vermuten: Hier ist der Bürgerkrieg noch längst nicht vergessen. Zerschossene Ruinen sieht man inzwischen fast keine mehr, doch die Militärpräsenz lässt klar erkennen, dass wir uns hier im einstigen Rückzugsgebiet der LTTE (Liberation Tigers of Tamil Eelam) befinden. Vor kurzem haben wir den Elephant Pass überfahren: die Engstelle zwischen den Lagunen, welche die Insel Jaffna vom Rest Sri Lankas trennen. Kurz danach kommt die Abzweigung nach Mullaitivu. Dort hatten sich bis vor etwa zehn Jahren noch die letzten Rebellen verschanzt, der Krieg endete, als der Terrorist, Befreiungskämpfer, Tamilenführer, Volksheld und vielfache Mörder Velupillai Prabhakaran hier am 19. Mai 2009 erschossen wurde.

Die Landschaft wird zunehmend grüner, jetzt sind auch frisch bewässerte Reisfelder und blühende Gemüsegärten zu sehen. Dann wieder zieht stundenlang undurchdringlicher Wald an den Fenstern vorbei. Gelegentlich erkenne ich in der Nähe von landwirtschaftlich genutzten Flächen hohe Plattformen, ähnlich konstruiert wie bei uns ein Jägerstand. Von unserer letzten Reise nach Sri Lanka wissen wir, dass diese errichtet wurden, damit die Feldarbeiter sich im Fall eines Angriffs wilder Elefanten hier hinauf flüchten können.

Der Bus hält auf der sechsstündigen Fahrt vielfach kurz, um Fahrgäste aufzunehmen oder rauszulassen. Nur einmal verlässt der Fahrer seinen Platz für zwei, drei Minuten. Ob das wohl die vorgeschriebene Lenkpause ist?
Wir wagen es jedenfalls nicht, auszusteigen. Wer will schon hier mitten im Nirgendwo vergessen werden und den Bus samt Gepäck davonbrausen sehen? Vorsorglich haben wir aufs Frühstück verzichtet und den ganzen Vormittag so gut wie nichts getrunken. Solange man sich so gut wie gar nicht bewegt, geht das schon mal. Apropos Bewegung: Ich fühle mich ohnehin wie Gulliver im Lande Lilliput. Als nicht ganz klein geratener Mensch habe ich meine Probleme, auf der engen Sitzbank Platz zu finden. Wenn ich meinen Rücken ganz gerade hinten an die Lehne drücke, pressen sich meine Kniescheiben mit gerade noch erträglichem Druck an die Lehne des Sitzes vor mir. Unmöglich, diese Stellung über Stunden aufrecht zu halten, an Dösen oder Schlafen ist schon gar nicht zu denken. Ich versuche mich in Meditation und stehe auf, wenn es gar nicht mehr geht, insofern es der Platz auf dem Gang erlaubt. Doch die Fahrt hat auch irgendwann ein Ende, mittags erreichen wir Trincomalee, Hauptstadt der Ostprovinz. Wunderschön auf drei Halbinseln gelegen verfügt die Stadt über einen der größten natürlichen Tiefseehäfen weltweit. Auf dem Felsen über der Stadt stehen die Reste eines Forts, das Zeuge der wechselvollen Kolonialgeschichte ist: Portugiesen, Dänen, Holländer und Briten haben sich hier abwechselnd zum Herrn gemacht. Der alte tamilische Tempel wurde dabei längst zerstört. Stattdessen wurden später ein hinduistisches und ein buddhistisches Heiligtum auf dem Felsen errichtet.
Wir aber haben ganz in der Nähe in Uppuveli und Nilaveli unsere Traumstrände gefunden. Hier ist es noch sehr ruhig und der Strand wird vor allem von Kühen, Hunden und Fischern bevölkert. Zu erreichen ist er über einen kleinen verfallenen Friedhof… irgendwie abgefahren.