Seit sechs Wochen und einem Tag sind wir jetzt unterwegs. Länger als auf allen vorherigen Reisen. Wir haben kein Heimweh. Es gibt ja auch kein Daheim mehr. Außerdem haben wir ja uns. Komischerweise sagen wir zu unserer jeweiligen Bleibe „Daheim“, auch wenn wir dort nur eine Nacht verbringen. Angenehmer ist es, zwei oder drei Nächte an einem Ort zu sein. Dann bildet sich ganz schnell eine Zelle des Gewohnten, man ist dann nicht ständig auf der Suche nach der nächsten Toilette, Trinkwasser, WLAN. Sicher fehlen uns unsere Familie und unsere Freunde ein wenig. Aber heutzutage bleibt man ja auch am andern Ende des Globus in Kontakt. Und mit der Oma telefonieren wir regelmäßig, sobald wir eine gute Internetverbindung haben.
Butterweicher Lao-Pop umspült unsere Ohren. Zum Glück nur recht leise, unten beim Fahrer muss es viel lauter sein. Immer wenn wir eine besonders tückische Bodenwelle erwischen, kommen durchtrennte Kabelenden in Kontakt und es wird für ein paar Sekunden auch bei uns oben laut. Der Lokalbus sieht ein bisschen aus wie das feuerrote Spielmobil, er soll für die gut 300 Kilometer um die fünf Stunden brauchen, aber keiner weiß das so genau. Schlussendlich brauchen wir neun Stunden. Ich weiß nicht, wann ihr das letzte mal neun Stunden auf einer durchgesessenen Sitzbank in einem Bus ohne Klimaanlage bei knapp 40°C zugebracht habt.
Es ist ein riesiger roter Doppeldecker. In der unteren Etage verfügt er über große Frachträume, die selbstverständlich komplett voll gestopft sind, Kisten, Kartons, Bananenstauden, ein Moped, Bambusmatten und ich weiß nicht was sonst noch. Oben sind Sitzbänke montiert. Wir sitzen ganz vorn und haben einen perfekten Blick auf Landschaft, Straße, Schlaglöcher. Eben überqueren wir die gelbbraunen Fluten des Nham Nghun Flusses. Im seichten Uferwasser stehen Fischer. Sie halten lange Stäbe wie Angeln, an denen quadratische Netze hängen. Die Fische, die hier leben, dürften blind sein. Jedenfalls brauchen sie keine Augen.
In jedem dritten Dorf hält der Bus, fliegende Händler mit Obst, Sandwiches, Bilderbüchern, Toilettenartikeln wie Zahnpasta und Rasierwasser steigen zu. Die einheimischen Reisenden werden ziemlich aufdringlich bedrängt zu kaufen. Die Verkäufer legen ihnen teilweise die Waren einfach in den Schoß. Zum Glück lassen sie uns in Ruhe. Hier sind wir die einzigen Westler. Manchmal hält der Bus auch, weil ein Paket am Straßenrand liegt. Dieses wird dann mitgenommen, vom Schaffner beschriftet und vielleicht auch später beim Empfänger ausgeladen.
Die Landschaft ist zunächst recht eben: Wälder, Farmen, kleine Dörfer wechseln sich ab. Häufig kommen wir an Teichen vorbei, wo offenbar Fische gezüchtet werden. Reisfelder sehen wir wenige. Fern am Horizont wächst langsam ein Gebirge immer höher, je näher wir kommen. Hier oben im schwankenden Oberdeck des Fahrzeugs und bei dem erbärmlichen Zustand der Straße kommen wir uns vor wie beim Kamelreiten. Warum schreibe ich eigentlich so viel übers Busfahren? Na ja, neben Schlafen dürfte es die Tätigkeit sein, mit der wir am meisten Zeit verbringen. Gefolgt vom Suchen nach der nächsten Unterkunft. Ausflüge zu Sehenswürdigkeiten sind auch auf Reisen eher die Ausnahme. Besonders in Laos, wo die Busfahrten eben ein wenig länger dauern.
Eben ist die Schule aus: Viele Kinder sind mit Fahrrädern auf der Straße unterwegs. Alle Jungs tragen dunkle Hosen und weiße Hemden. Die Mädchen blaue Kleider und weiße Blusen. Schultaschen haben sie keine, vielleicht gibt es hier keine Hausaufgaben?
Eine Stunde später ist das Gebirge fast zum Greifen nah von links an die Straße herangerückt, rechts schimmert ab und zu der Mekong durch die Bäume. Hier ist der Grenzfluss zu Thailand drei- oder viermal so breit wie zuletzt in Vientiane. Er beschreibt einen riesigen Bogen, unser Weg folgt diesem. Der Himmel trägt ein blauweißes Gewand, die Schäfchenwolken bewegen sich nicht. Wir schwitzen.
Die Gegend wird immer einsamer, der Verkehr spärlicher. Je weiter wir uns von der Hauptstadt entfernen, desto weniger ist los. Noch eine lange Brücke über einen riesigen Fluss, den Nam Kading, der in Blickweite in den Mekong mündet. Die Straße verlässt jetzt den mächtigen Strom und biegt östlich in bergiges Gelände ab. Die Niederungen waren zuletzt sumpfig feucht, überall stehen Tümpel. Der Fluss hat Hochwasser, die Kronen überschwemmter Bäume ragen aus der schlammigen Brühe. Das Kamel unter uns bockt. Wir halten jetzt direkt auf die Berge zu. Eine kilometerbreite Schneise klafft im Regenwald: Hier wurde auf einer riesigen Fläche jede Vegetation abgeholzt und der bloße Fels freigelegt. Ein Steinbruch, ein Tagebergbau? Unterhalb im Berghang sind durch die Erosion Canyons ausgewaschen, die ich aus mehreren Kilometern Entfernung sehen kann. Ich versuche meinen Sitznachbarn zu fragen, was da geschieht, aber er versteht mich nicht oder er weiß es auch nicht. Wieder einmal hält der Fahrer, weil er irgendetwas an einem Stand am Straßenrand kauft; Räucherstäbchen vorhin, etwas Bier jetzt. Da biegt ein schwer beladener Truck auf unsere Straße ein. Beim Beschleunigen stößt er dicke, schwarze Rauchwolken aus. Für ein paar Sekunden ist die ganze Kreuzung vernebelt.
Was heißt Kerepek Kentang? Das errät keiner! Es ist fast lautmalerisch… Wir hatten vorgestern eine Rolle Pringles gekauft, aber nicht einfach normale, sondern die guten mit Salz und Algen – wie sich beim Verzehr und Studium der Packung herausstellte. Beim Busfahren hat man viel Zeit. Kerepek Kentang mit Garam und Rumpai Laut!
Ich kann schon laotisch. Wenn das Essen besonders gut geschmeckt hat, wie gestern Abend das Entenhack mit Minzsoße und Basilikum (sehr spicy!), dann sage ich „Sepp lai“, und die Köchin strahlt. Das habe ich beim Abendessen in der Thakhek Travellodge wieder ausprobiert: Der gleiche Effekt. Ein paar Brocken der Sprache und die Menschen merken, dass du Interesse an ihrem Land hast. Von Thakhek aus kann man sehr gut die umliegenden Berge und Höhlen erkunden. In der trockenen Jahreszeit bietet sich eine mehrtägige Rundfahrt durch die Berge an. Leider haben wir dafür nicht die richtige Jahreszeit erwischt. Mal sehen, wie weit wir morgen kommen.
Thakhet, 14.09.2019, 8.00 Uhr