Die raue Westküste

Endlich habe ich mich dazu durchgerungen, auch die rechte Sandale zu verabschieden. Bis heute hatte ich noch gehofft, dass die linke noch ihren Weg zurück zu uns fände, aber wer glaubt schon an den Weihnachtsmann? Überhaupt, Weihnachten. Wir haben Heiligabend am Milford Sound verbracht, am ersten Feiertag sind wir den Aufstrich des Anfangsbuchstabens vom Kepler Treck gewandert. Insgesamt hat der Treck rund 60 Kilometer, davon sind wir heute ein Zehntel gelaufen. Aber hin und zurück! Also doch das halbe K. Auch heute haben wir wieder ein wenig unsere abnehmende Fitness betrauert. Aber andererseits: Andere sind noch viel unfitter, auch Bekannte von uns. Oder haben schlimme Krankheiten. Oder sind schon gestorben. Also muss man dankbar sein.

Nach einem schönen, ausführlichen Frühstück geht es weiter nach Queenstown. Die Stadt ist überfüllt mit Weihnachtsurlaubern, also weiter über die Crown’s Range Richtung Norden. Auch dies ist eine wunderschöne, extrem gewundene Bergstraße. Wir kommen ins hübsche Arrowtown. Das kleine Provinznest hat sich ein wenig von dem alten Goldgräbercharme erhalten. Dennoch: Hier treffen wir auf die ersten sprechenden Toiletten. Ohne Scherz: Tür auf, und eine Stimme begrüßt dich. Musik erklingt, in diesem Fall „Rudi, the rednosed Reindeer“, dann erklärt dir das Klo, dass du zehn Minuten Zeit hast für dein Geschäft. Wenn du fertig bist, spült die Toilette selbsttätig – es könnte ja sein, dass du es vergessen hast? – und auf Knopfdruck öffnet sich die Türe wieder. Unglaublich, vor allem nachdem wir jetzt schon so viele Komposttoiletten gesehen und benutzt haben. Vielleicht will der Kiwi da ein bisschen was wieder gut machen?

Am Lake Haynes sitze ich in Pullover und mit Socken am Ufer und beobachte unerschrockene Neuseeländer, die tatsächlich ins Wasser steigen und schwimmen. Am Lake Wanaka besichtigen wir den berühmten Tree-in-the-lake. Er ist nicht schwer zu finden, es stehen immer mindestens zwei Dutzend Chinesen davor. Komischerweise treten sie fast immer in Gruppen oder gar in Horden auf. Die Chinesen, nicht die Bäume.

Im einzigen Bioladen von Fjordland, Southland und Otago erwerben wir noch ein weiteres Moskitospray. Vielleicht hilft ja das gegen die Sandfliegen? Dann fahren wir bei stetig schlechter werdendem Wetter weiter nordwärts, entlang der Seen Lake Wanaka, Lake Hawea und dann wieder Lake Wanaka. Jeder dieser Seen hat so gigantische Ausmaße! Am Haast Pass überqueren wir das Gebirge, ein kurzer Wandersteig bringt uns bei leichtem Regen auf den Haast Pass Lookout. Jeder der Urwälder hier auf der Südinsel hat einen eigenen besonderen Charakter, hier ist buchstäblich alles von Farnen und Flechten überwuchert. Vielleicht kommt es mir auch nur so vor, weil: Weit sehen kann man bei dem Wetter ohnehin nicht. In Haast gibt es dann tatsächlich genau einen kleinen Tante-Emma-Laden (hätten wir doch noch in Wanaka eingekauft!) und ein Café. Bei jetzt strömendem Regen kehren wir ein, leider gibt es nichts mehr zu essen. Wer hat bei dem Wetter Lust, im Freien zu kochen? Genau, niemand. Drum ist das Essen auch ausverkauft und auf allen Plätzen sitzen satte Touris, die sich an ihren Kaffeetassen festhalten, nur um nicht in den Sturm raus zu müssen. Also, dann eben nur Kaffee für uns und anschließend weiter auf der Straße entlang der Westküste. Es regnet Sturzbäche. Immerhin ist die Straße (bisher) nicht gesperrt.

Hier gibt es so gut wie gar nichts mehr. Kein Radio, kein Handynetz, keine Ortschaften. Am Knights Point sind die vorgelagerten Felsen kaum zu erkennen, von den Seelöwen ganz zu schweigen. Wir bleiben irgendwo am Paringa River neben der Straße stehen und vermeiden es, das Auto zu verlassen. Leider ist unser Bettzeug im Dachzelt, aber dorthin kommen wir jetzt keinesfalls. Also igeln wir uns hinten auf den Sitzbänken ein. Als der Sturzregen mal kurz etwas leichter wird, springe ich auf die Leiter und hole unser Bettzeug aus dem ersten Stock. Später wärmen wir noch eine Kürbissuppe aus der Dose auf. Nicht lecker. Am anderen Morgen ist der Regen vorbei und ein strahlend blauer Himmel lacht uns an! Nichtsdestoweniger ist unser Bettzeug komplett nass. An den eiskalten Blechwänden, an den Fenstern und an unserer Bettdecke des Vans kondensiert der Atem in der Nacht so stark, dass morgens alles schwimmt. Die Sandfliegen sind auch schon munter. Wir kochen Kaffee und fahren erstmal ein Stück mit voller Heizung und Klimaanlage. Kurz drauf kommen wir ans Meer – wieder so ein kilometerlanger Traumstrand: Bruce Bay. Hier frühstücken wir und lassen unser Auto trocknen, laden wieder ein paar Hundert Sandfliegen ein und weiter geht’s. Allein an meinem linken Fuß zähle ich 40 Stiche!

Die Gletscher an der Westküste sind unser nächstes Ziel. Den Fox Glacier bestaunen wir nur aus der Ferne: Vom Lake Matheson aus soll man einen schönen Blick haben, doch heute versteckt sich der Mount Cook meist hinter dicken Wolken. Nur ganz kurz sehen wir den schneebedeckten Gipfel. Sicher, wir könnten uns natürlich auch mit dem Helikopter rauffliegen lassen, rund 500€ hätte uns der Spaß gekostet. Hier stehen überall Helis herum und es scheint auch ganz normal zu sein, denn zum Fox Gletscher kommt man ohne Flug nur schwierig hin. Ist doch irgendwie verdreht: Da lassen sich die Leute per Helikopter auf den Gletscher fliegen, weil Gletscher klimawandelhalber bekanntlich immer kleiner, immer seltener und was Besonderes. Und beim Flug hinauf entstehen dann flugs noch ein paar Kohlendioxide, weil Heli mit Solar noch nicht erfunden. Wir steigen also wieder in unseren Toyota Diesel (ja!) und brausen weiter zum Franz-Josef Gletscher. Der hieß übrigens bis 1865 Albert. Der Entdeckungsreisende Julius Haast hat ihn dann aber nach dem österreichischen Kaiser umbenannt. Die Maori sagen wieder noch anders dazu: Waiau. Dem Gletscher ist das aber alles egal. Der schwitzt und wird jedes Jahr ein paar Dutzend Meter kürzer. Wir erwandern ihn über einen kurzen Wanderweg entlang dem reißenden Waiho-River, der aus dem Schmelzwasser des Franz-Josef besteht.

Unser Nachtlager schlagen wir in Okarito auf, endlich wieder duschen! Der Platz ist relativ arm an Sandfliegen, vielleicht liegt es auch an dem extremen Starkwind. Neben dem Kitchenshelter (eigenen Gaskocher mitbringen!) hat sich der Bus mit der Kiwiexperience breitgemacht. Junge Leute, die gemeinsam im Bus reisen und manche Etappen per Fahrrad zurücklegen. Gekocht wird gemeinsam, Zelte haben sie auch dabei. Eine gute Idee!

Auf der Route nordwärts wird es immer einsamer. Westland ist der am dünnsten besiedelte Teil Neuseelands. An den Tankstellen steht teilweise ein Schild, wie weit es jeweils bis zur nächsten ist. Und wir reden hier von 100 oder 200 Kilometern. Überhaupt, die Straße. Eben haben wir eine (solarbetriebene) Anzeigetafel passiert, die besagt, dass die Straße von sieben Uhr morgens bis 9 Uhr abends offen ist. Mit gutem Grund: Einige Stellen sind nur einspurig befahrbar, vielfach wurden Brücken und Böschungen bei den heftigen Regenfällen der letzten Wochen weggespült. Mehrfach passieren wir Stellen, wo offenbar Muren und Lawinen über die Straße hinweggegangen sind. Die schweren Baumaschinen für die Aufräumarbeiten stehen großteils noch an Ort und Stelle. Ich habe ja den Verdacht, dass das Gerät gleich hier bleibt, denn der nächste Erdrutsch ist nicht weit. Kein Wunder, dass viele der einheimischen Autos nicht nur über Allradantrieb verfügen, sondern auch ein hochgelegtes Luftansaugsystem. Stundenlang fahren wir über den Westhighway 6, gelegentlich kommen wir durch winzige Weiler wie die alten Goldgräberorte Ross oder HariHari. Meist gibt es dort einen Diner mit Bierausschank, manchmal eine Tankstelle, selten einen kleinen General Store (Tante Emma Laden). Wer hier lebt, hat definitiv eine große Tiefkühltruhe und eine eigene Wasser- und Stromversorgung. Zum Einkaufen mal eben zwei, dreihundert Kilometer in die nächste „Stadt“ zu fahren, das ist nicht jedermanns Sache. Doch die Landschaft ist atemberaubend schön. Immer wenn wir die breiten Flüsse auf den One Lane Bridges (einspurige Brücken) überqueren, schaue ich – zu Andreas Entsetzen – gern zur Seite. Meist thront ein nebelumwobener hoher Berg im Hintergrund, das Schmelzwasser seiner schneebedeckten Hänge strömt eisig-blaugrau über breite Kiesfelder. Angeschwemmte Bäume und zerschmettertes Treibholz spricht Bände über die Gewalt des Wassers.

Zum Glück wird das Wetter gerade wieder besser und wir wagen es trotz heftigem Wind am Lake Malinapua zum Baden zu gehen. Doch kaum, dass das Wasser bis an die Waden reicht, wird umdisponiert. Man kann sich auch prima mit den Händen ein wenig Wasser schöpfen und die Achseln auswaschen, das genügt. In Hokitika gönnen wir uns einen ziemlich mäßigen Burger und Sandwich, dann geht’s weiter in die größte Stadt Westlands: Greymouth. Hier leben gerade mal knapp 10000 Menschen. Monteiths Brewery ist wohl die größte Attraktion des Ortes, also hin. Mein Schatz ist so lieb und fährt das Auto im Anschluss an die Bierprobe.

Unsere Übernachtung am Spülsaum wird beinahe zum Alptraum. Der große Camperparkplatz ist nach unserer Bierprobe übervoll, also weichen wir aus auf die untere Strandpromenade, die Schilder mit den Überflutungswarnungen ignorierend. Im Laufe der Nacht kommt die Flut und wir hören die Wellen so laut, dass wir meinen, unser Auto wird schon umspült.

Die Pancake Rocks sind vor 35 Millionen Jahren durch Sedimentation in einem Urmeer entstanden. Schicht um Schicht legten sich Schwebeteilchen ab, Druck ließ die Schichten absinken und verdichtete das Ganze zur Versteinerung, später hoben sich die Gesteine und wurden Erosion durch Wellen und Wind unterworfen. So entstand das bizarre Felsengewirr am Meeresufer. Bei Flut erzeugen die Wellen in den Hohlräumen extremen Druck, der sich mit Krachen wie von Donnerschlägen und mit riesigen Wasserfontänen entlädt.  

Wenn jetzt ein Brontosaurier aus dem urzeitlichen Farnwald herauslugen würde – ich wäre nicht überrascht. Wie in Jurassic Park fühlen wir uns auf dem Punakaiki River Walk. Oben dichter Nebel, hohe und steile Felswände, unten ein glasklarer munter sprudelnder Fluss, und überall rundum sprießende, blühende und alles und sich selbst immer wieder überwachsende Vegetation. Am Stamm jedes Baumfarns ranken sich unzählige kleine Aufsitzerpflanzen hoch, Moose und Flechten bedecken jeden Quadratzentimeter.

Der Foulwind Walk führt uns über eine kleine nördliche Landspitze mit einem Leuchtturm. Abel Tasman hatte wohl seinerzeit Pech mit dem Wind, weshalb er die Gegend und das Kap Foulwind benannte. Dicht dabei gibt es eine Robbenkolonie. Die Tiere liegen gemütlich auf den Felsen unter unserem Ausblickspunkt. Man kann nicht dichter heran, man möchte auch nicht. Einerseits der Tierschutz, zum anderen der Gestank. Ich weiß nicht, ob es an der jetzigen Paarungszeit liegt, aber vor ein paar Wochen stanken die Tiere an der Ostküste weit nicht so. In der Bucht daneben nehme ich trotz kühlem Wasser und heftigem Wind ein Bad im Meer: Wunderbar!

Beim Einchecken im Berlin’s  am Buller River bekomme ich gleich ein Jobangebot. Ich könnte sofort als Koch oder Barmann anfangen. Mit den Sandfliegen hier habe ich mich aber noch nicht angefreundet.

Die Texte sind großen teils schon ein paar Tage alt – mangels Internet bin ich nicht zum Aktualisieren des Blog gekommen. Wir sind mittlerweile über den Lewis Pass rüber und in Waiau zurück auf der Ostseite.
Wir wünschen allen Verwandten, Freunden und anderen Lesern einen guten Rutsch!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.