Am Slope Point erreichen wir den südlichsten Punkt Neuseelands. Von hier sind es noch 4803km zum Südpol. Wahrscheinlich haben wir jetzt auch den südlichsten Punkt unserer Reise erreicht, denn ob wir es wirklich bis nach Feuerland schaffen, ist fraglich. In den letzten Wochen haben wir so oft gefroren, dass wir keine Lust mehr auf weitere Kälte haben.
22.12.2019 am Lake Manapouri
In Fortrose schlafen wir gleich neben den Dünen auf einem kleinen kostenlosen Stellplatz. In der Nacht hat es aufgeklart, wir können einen unglaublich schönen, klaren und dunklen Sternenhimmel sehen. Die ganze Milchstraße! Wir haben jetzt die Catlins verlassen und machen uns bei wieder immer schlechter werdendem Wetter über die einsamen Straßen von Southland zunächst nach Invercargill auf. In der südlichsten Großstadt Neuseelands kaufen wir für die Weihnachtsfeiertage ein. Außer Lebensmitteln für vier Tage sind auch ein Paar Handschuhe und Batterien für meine Stirnlampe dabei. Darüber hinaus ist ein Trip über den Milford-Sound unser gemeinsames Weihnachtsgeschenk. Vom Südmeer verabschieden wir uns bei McCracken’s Rest, einem wunderbaren Aussichtspunkt über viele Kilometer Strand nach beiden Seiten. Mächtige Brandung und stürmischer Wind lassen uns nicht lang verweilen; zumindest regnet es endlich mal nicht. Dann biegen wir Richtung Norden ab und mit jedem Kilometer wird das Wetter besser. Wir schalten die Heizung im Auto ab, dann ziehen wir die Pullover aus, schließlich fahren wir unsere Scheiben herunter! Rasch heben die steigende Temperatur und der strahlende Sonnenschein unsere Stimmung nach den vielen Regentagen wieder. Die Straßen werden umso einsamer, je weiter wir uns von der Umgebung Invercargills entfernen.
Schneebedeckte Gipfel tauchen in der Ferne auf, wir sehen unsere hunderttausendsten Schafe und es wird immer wärmer. Ab jetzt Richtung Nordwesten wird die Infrastruktur extrem dünn, es gibt kaum noch Tankstellen – von Abfalleimern, Mobilfunk oder Radio ganz zu schweigen.
Wir stehen an einem kleinen Parkplatz in einem riesigen Tal. Den Lake Te Anau haben wir vor ein paar Minuten hinter uns gelassen, nachdem wir in der gleichnamigen Ortschaft nochmal getankt und ein paar letzte Lebensmittel eingekauft haben. Endlich ist der Himmel wieder blau, mächtige Berge säumen das Tal zu beiden Seiten. Ganz weit im Norden sehe ich schneebedeckte Gipfel. Ein reißender Wildwasserbach spaltet sich in viele Arme auf, die sich kurz darauf wieder vereinigen. Die Landschaft ist so atemberaubend schön, man ist versucht, alle paar hundert Meter anzuhalten, um ein Foto zu aufzunehmen. Zum Glück gibt es viele Aussichtspunkte und die Landschaft ist riesig. So verteilen sich die beträchtlichen Menschenmassen einigermaßen. Nur einmal, an den Mirror Lakes drehe ich um. Eben haben drei große Reisebusse ihre Passagiere ausgespien. Selbstverständlich sind wir nicht die einzigen, die sich an der Naturschönheit erfreuen wollen. Wenn alle diese Chinesen jetzt die Welt bereisen, meint Andrea, dann sollten wir vielleicht nach China fahren – da muss es ja ganz leer sein! Ich fürchte, der Plan geht nicht auf.
Die Landschaft ist extrem mächtig, man fühlt sich ganz klein dagegen. Morgens überfallen uns dann Myriaden von Sandfliegen, auch eine mächtige Naturgewalt. Das Frühstück verlegen wir auf den Platz The Divide – eine Art Sattel oder Pass. Während wir an der offenen Heckklappe unser Käsebrot im Stehen verdrücken, krächzen und zwitschern über unseren Köpfen die Bergpapageien. Wir haben uns eine kurze Wanderung zur Howden Hut herausgesucht. In Serpentinen steigen wir zu der kleinen Selbstversorgerhütte, die idyllisch zwischen mächtigen Bergen und kristallklaren Seen liegt. Sandfliegen gibt es allerdings auch hier in rauen Massen. Wir bleiben keine fünf Minuten, an Rast ist nicht zu denken. Auch auf dem Rückweg sind wir wieder mal die langsamsten aller Wanderer, dauernd werden wir überholt. Es scheint uns, dass die Leute ein Wettrennen veranstalten: Wer kann noch mehr Punkte auf der Liste in einem Tag abhaken? Gut, dass wir gar nicht schneller können, denn mein Fußgelenk und Andreas Rücken bremsen uns. Schließlich sind wir auch mit Abstand die ältesten hier, wie beinahe überall auf unserer Reise. Besonders heute ein komisches Gefühl: es ist Heilig Abend, und wir sind hier ganz allein ohne unsere Kinder und die Oma.
Der weitere Weg Richtung Milford Sound führt uns über die Milford Road, eine der anerkannt schönsten Straßen der Welt, an vielen atemberaubenden Aussichtspunkten vorbei. Brav halten wir wie all die anderen Touristen, schießen unsere Fotos und fahren kurz drauf weiter. Zum Verweilen ist hier überall zu viel los. Vor dem Homer Tunnel müssen wir kurz warten – Einbahnregelung. Ein neugieriger Kea verkürzt die Wartezeit. Die leider inzwischen seltenen Bergpapageien sind sehr intelligent und extrem neugierig. Ich setze mich auf die Straße und baue aus ein paar Kieselsteinen eine Pyramide, der Vogel schaut gespannt zu und kommt näher. Doch bald schaltet die Ampel auf grün und ich springe zurück ans Steuer. Ciao, Kea! Der Tunnel, erbaut von 1939 bis 1953 (!) ist steil und finster. Wir unterqueren in wenigen Minuten das riesige Bergmassiv und erreichen auf der anderen Seite ein Tal mit beinahe senkrechten Wänden, aus denen viele Wasserfälle hervortreten und hunderte Meter herabfallen. Vor der Fertigstellung des Tunnels und der Straße war der Sound nur über den Milford Track zu Fuß oder per Schiff von der Tasmansee aus erreichbar. Die Bootstour über den Fjord haben wir uns zu Weihnachten geschenkt – im Sonderangebot gab es die Fahrt bei BookMe für 55 statt 99 NZ$. Tatsächlich ist unser Boot wie versprochen das mit Abstand kleinste im Hafen und zum Glück höchstens halb voll. Am Sound ist eine komplette Touristenbespaßungs- und Naturentdeckungsindustrie entstanden. Es gibt sogar einen Flughafen in Milford Sound! Kaum jemand wohnt hier, es geht nur um die Abwicklung der Touristentouren. Die zweistündige Bootstour genießen wir trotzdem, sie führt uns zu spektakulären Wasserfällen mit integriertem Regenbogen, entlang steilen, hunderte Meter hohen Felswänden bis ans Meer.
Auf dem Rückweg sehen wir sogar Fellrobben ganz aus der Nähe, dann fährt das Boot unter einem Wasserfall hindurch. Die Nacht verbringen wir auf dem ehemaligen Straßenarbeitercamp am Gunn’s Point – wieder umschwirrt durch Wolken von Sandfliegen. Hier geht es ziemlich rustikal zu: Mitten im Wald an einem kleinen Fluss und einem Bach stehen ein paar alte wellblechgedeckte Hütten, es gibt einen Generator und abends für ein paar Stunden Strom. Warmes Wasser zum Duschen kann man haben, solange es unter dem holzbeheizten Kessel brennt, danach ist es ziemlich frisch, genauer gesagt eiskalt. Abgesehen davon verfügt der Platz über einen unerschöpflichen Vorrat an Sandfliegen. Die kleinen Plagegeister stechen oder beißen, genau weiß ich es nicht. Aber der Effekt ist viel übler als bei normalen Moskitostichen. Binnen 24 Stunden entstehen große eitergefüllte Quaddeln, die nicht nur höllisch jucken, sondern richtig weh tun. Aber wehe, man kratzt, dann wird es noch viel, viel schlimmer.