11.10.2019 Jakarta, Indonesien
Ein schreiender Mann sitzt am Fußende des Bettes. Was will er bloß von mir? Er scheint Schmerzen zu haben. Doch da ist noch ein zweiter Mann, er sitzt am Kopfende und versucht den ersten zu übertönen! Als sich noch ein dritter einmischt, dämmert es mir. Es sind die Muezzine, die zum Gebet rufen. Die Nacht endet also abrupt gegen 4 Uhr früh. Etwa eine Stunde dauert das Rufen und Singen, wir sind umzingelt. Von allen Seiten scheppern die lautsprecherverstärkten Gebete. Irgendwann gegen fünf hat es ein Ende und wir schlafen wieder ein. Um sieben dann setzen die Presslufthämmer der nahegelegenen Baustelle ein. Zeit, aufzustehen.
Nach den Zwergenländern, die wir bisher besucht haben, ist Indonesien ein Gigant. Fast 1800 Kilometer erstreckt sich das Land von Nord nach Süd, von West nach Ost sind es sagenhafte 5120 Kilometer. Über 700 Sprachen werden von den rund 280 Millionen Menschen in dem riesigen, fast zwei Millionen Quadratkilometer großen Land gesprochen. Mit rund 17000 Inseln ist es weltweit die größte Inselnation, von der Bevölkerungszahl steht es an vierter Stelle. Jakarta soll die zweitgrößte urbane Zone der Welt sein, Java die am dichtesten besiedelte Insel. Dennoch gibt es im Land riesige naturbelassene Gebiete und ein hohes Maß an Biodiversität. Es ist reich an Bodenschätzen wie Öl, Gas, Kohle, Zinn, Kupfer, Gold und Nickel; die Landwirtschaft produziert Reis, Palmöl, Tee, Kaffee, Kakao, Gewürze und Kautschuk. Indonesien liegt nahe am Äquator und kennt keinen Sommer oder Winter, sondern eine Trocken- und eine Regenzeit. Schon immer trieben die Menschen des indonesischen Archipels Handel mit benachbarten und entfernten Mächten wie Indien, China; muslimische Handelsreisende brachten schon im 13. Jahrhundert den Islam, später folgten Europäer und christliche Einflüsse. Heute sind rund 87% der Indonesier Moslems, und rund 10% Christen. Portugiesen, Franzosen und Briten kämpften seit dem Zeitalter der Entdeckungen um den Einfluss auf die Gewürzinseln (Molokken), wobei die Holländer sich am längsten behaupteten. Nach dem Zweiten Weltkrieg erstritt sich Indonesien die Unabhängigkeit. Sukarno, der Vater des modernen Staates, führte diesen zunehmend in ein autoritäres Regime über, bis er 1968 von Suharto in einem Militärputsch entmachtet wurde. Es folgte eine Phase des wirtschaftlichen Aufbaus und trotz grassierender Korruption wurden große ausländische Investitionen getätigt. Obwohl die Finanzkrise das Land schwer traf und politische, ökonomische und soziale Instabilität sowie auch Terroranschläge den Fortschritt bremsten, ist die Wirtschaft sehr stark gewachsen. Das große Erdbeben und der Tsunami 2004 trafen das Land verheerend, hatten aber auch eine einigende Wirkung auf die teilweise aufrührerischen Regionen. Seit 2014 regiert der erste zivile Präsident Jokowi und das Land eilt mit Riesenschritten in die Moderne. Die rapide Entwicklung und Industrialisierung brachten schwerwiegende ökologische Probleme: Kahlschlag der Wälder, Überfischung der Meere, Luftverschmutzung, fehlende Entsorgungskonzepte sowie Probleme mit der Trinkwasserversorgung und der Abwasserentsorgung. Insbesondere die Palmölindustrie ist verantwortlich für schwere ökologische und darauffolgende soziale Probleme.
Uns begrüßt Jakarta nach den Problemen mit der Buchung und dem fehlenden Weiterreiseticket erstmal sehr freundlich. Beschwingt verlassen wir den riesigen, hochmodernen Flughafen Soekarno-Hatto. Statt uns in die Hände eines überteuerten Taxis und des unvermeidlichen Stau zu begeben, laufen wir zielstrebig zum Skytrain, der die einzelnen Teile des Flughafen verbindet und fragen uns zum regulären Flughafenbahnhof durch. Bereits hier erfahren wir mehrfach indonesisch-muslimische Hilfsbereitschaft. Eine ältere Dame, verschleiert, bemüht sich in bestem Englisch um uns, mehrere Uniformierte weisen den besten Weg. Im ultramodernen Zug in die Stadt (knapp eine Stunde!) lernen wir Herrn Ally kennen, einen Geschäftsmann im Anzug, CEO einer Umweltfirma. Er bemüht sich, erneuerbare Energien und Abfallwirtschaft in seinem Land voranzubringen. Ich frage ihn, welchen Stellenwert die Themen Umwelt und Klimaschutz für seine Mitbürger haben. Er lacht; so gut wie keinen, meint er. Er kämpfe seit Jahren in seinen Seminaren und Kampagnen gegen Windmühlen. Die Zeit im Zug vergeht wie im Flug und wir stehen bald darauf an einem der vielen Bahnhöfe der Zwölfmillionenstadt. Von hier sind es noch etwa fünf Kilometer zu dem Hostel, das wir uns ausgesucht haben. Weit und breit gibt es kein Tuktuk, kein Taxi. Junge Leute helfen uns zu einem Taxi und bezahlen dieses darüber hinaus noch für uns. Wir sind sprachlos!
Jaksa, eigentlich wollte Andrea dieses Viertel meiden. Vor der einstigen Backpackeradresse Nummer eins warnt der Lonely Planet: Die meisten Hotels seien inzwischen schäbig, wenn nicht sogar schmuddelig. Wir haben abermals Glück, denn nachdem unser Fahrer die Wirtsleute herausgeklopft hat – es ist inzwischen 23.30 Uhr – führt man uns in ein sauberes, schönes Zimmer.
Wir erkunden die zweitgrößte Stadt der Erde erstmal ganz unerschrocken zu Fuß. Rund 15 Kilometer schaffen wir, dann ist Schluss. Zunächst laufen wir in diesem riesigen Ameisenhaufen zu dem richtigen der vielen Bahnhöfe, Pasar Senen, um unser online gekauftes Ticket für die Weiterfahrt am nächsten Tag auszudrucken. Danach wandern wir weiter zum historischen Lapangan Benteng, einem Platz mit alten holländichen Kolonialbauten und dem zweifelhaften Monument zur Befreiung Irian Jayas, welches eigentlich von Indonesien nicht befreit, sondern annektiert wurde. Sämtliche Monumente sind vor allem eins: monumental und außerdem ziemlich hässlich. In der Kathedrale findet gerade eine Hochzeit statt, wir genießen eine kurze Ruhepause in dem klimatisierten Gotteshaus und der feierlichen Stimmung. Weiter geht es zur Istiqlal-Moschee, der größten in Südostasien. Das Nationaldenkmal, ein 137 Meter hoher Marmorobelisk, auch bekannt als Soekarnos letzte Erektion, beeindruckt uns ebenso wenig wie der hässliche Zentralpark Jakartas; im Nationalmuseum finden wir wieder etwas Kühle und Ruhe, bevor wir schließlich wieder durch den unglaublichen Verkehr zum Hostel zurück laufen.