Meine Augenringe hängen bis zum Kinn. Letzte Nacht habe ich höchstens vier Stunden geschlafen, obwohl das Hotelbett bequem war, das Zimmer dunkel und die Umgebung leise. Statt zu schlafen habe ich über die fehlende Komfortzone gegrübelt. Dieser Tag war ein Tiefpunkt.
Nach der sehr billigen, aber auch unbequemen Nacht im lauten Kuta brachte uns ein vierstündiger Flug ohne Getränk oder Imbiss nach Kuala Lumpur. Die einzige Erfrischung, die uns zuteil wurde, war eine ausgiebige Aerosolbesprühung durch die Stewardessen kurz vor dem Landeanflug. Hat man uns hier desinfiziert? Es stank eklig nach Kunstaroma. Dann der Kulturschock: Alles in Malaysia ist extrem sauber, super ordentlich und viel teuer als in Indonesien. Hungrig setzen wir uns am Flughafen in den Expresszug ins Zentrum. Entlang der Bahnstrecke sehen wir Reihenhäuser, die ebenso in Bielefeld, Halle oder Altötting stehen könnten, fremd nur die Bananen und Kokospalmen in den Vorgärten. Hier haben Autobahnen wieder Leitplanken und Mittelstreifen, dafür weder Schlaglöcher, Kreuzungen noch Speedbumps. Der Zug sieht innen deutlich moderner aus als die letzten Flugzeuge.
Der Hauptbahnhof Sentral Stasiun sitzt wie ein gordischer Knoten inmitten der vielen verschlungenen Verkehrswege der Hauptstadt Malaysias: Schnellbahn, Expressbahn, Pendlerbahn, U-Bahn, Monorailbahn, Stadtautobahn und normale Straßen kreuzen sich in mehreren Ebenen – Stuttgart 21 ist ein Fliegenschiss dagegen. Unsere Rucksäcke verstauen wir in einem sündhaft teuren, sprechenden Schließfach mit Gesichtserkennung. Ob das wohl gut geht? Heute steht das Experiment Couchsurfing an. Wir haben eine Einladung von einem Hals-Nasen-Ohrenarzt, der StarTrek-Fan und Sammler von Schokoladenpapier, Flugmagazinen und Flaggen ist. Leider hat er Spätschicht und wir müssen die Zeit bis zum späten Abend irgendwie überbrücken.
Also erwandern wir die Innenstadt von KL, besuchen Little India und laufen noch ein paar Kilometer, um einen Blick auf die Petronas Towers im Abendlicht zu erhaschen. Zwischendurch durchstöbern wir die gigantische, bereits weihnachtlich dekorierte KL Sentral Shoppingmall auf der Suche nach einer malaysischen Daten-SIM-Karte fürs mobile Internet. Das ist hier gar nicht so einfach, wie man meinen möchte. Schließlich bekommen wir nach langem Hin und Her eine Monatskarte mit unbegrenztem Datenvolumen für lächerliche 37 Ringgit (8,50€), aber erst nachdem mein Pass weißgottwie oft gescannt, abfotografiert und sonstwohin geschickt wurde sowie eine umständliche Aktivierungsprozedur absolviert ist, funktioniert das Ding. Eigentlich wollen wir doch nur duschen und unsere Ruhe! Aber ohne mobiles Internet kein Chat, ohne Chat keine Couch. Zwar gibt es in jedem Cafe WiFi for free, aber selbst mein Fassungsvermögen für Espresso ist irgendwann erschöpft.
Wieder online läuft unser erstes Couchsurfing-Experiment komplett aus dem Ruder. Der Gastgeber hat wohl doch keine Zeit für uns, außerdem wird immer klarer, dass er relativ wenig am Kennenlernen anderer Reisender interessiert ist. Vielmehr scheint er möglichst viele Gäste möglichst schnell abfertigen zu wollen. Die 347 Freunde auf der CS-Plattform hätten mich vielleicht gleich stutzig machen sollen. Seit ich mit ihm kommuniziere, hat er noch mindestens sechs andere Gäste, die wechselweise seine Wohnungsschlüssel bekommen; er selbst ist meist in der Arbeit. Mit Andrew aus Tschechien und Ivan aus Russland schreibe ich per WhatsApp mehr als mit unserem Gastgeber.
Das Drama steigert sich. Da unser Gastgeber bis 22 Uhr arbeitet und dann noch Überstunden machen will, verabreden wir uns stattdessen mit Andrew. Es gelingt mir trotz bleierner Müdigkeit und wachsender Entnervtheit unseren und Andrews Standorte in der Karte auf der App zu einer Taxibestellung zu verknüpfen, endlich bewegt sich das kleine Auto auf dem Display auf uns zu – aber was ist das? Der Fahrer fährt an uns vorbei und hält ganz woanders als ausgemacht. Es dauert eine Weile, bis ich ihn im echten Leben schließlich doch finde, aber jetzt ist er ungehalten und mault mich an wegen der vertanen Zeit. Er will uns nicht mehr chauffieren und nun bin auch ich nicht mehr sehr freundlich. Ein anderes Transportmittel ist zu später Stunde nicht in Sicht, denn komischerweise klappt man hier trotz allem Weltstadtgehabe gegen 22.00 Uhr die Gehsteige hoch. Wir checken total entnervt, durchgeschwitzt und müde irgendwo zwischen Bahnhofsviertel und Little India in einem Hotel ein.
Anderntags erkunden wir die hochmoderne, blitzsaubere Großstadt per S-Bahn und zu Fuß. Unzählige protzige Wolkenkratzer und pikfeine Einkaufszentren scheinen um die besten Plätze zu streiten, überall sind riesige Baustellen, wo noch mehr gigantische Bauprojekte entstehen. Im KLLC Center, einem Konsumtempel der Extraklasse verlaufen wir uns beinahe. Hier sind alle Luxusmarken der Welt vertreten: Diamantenbesetzte Täschchen und idiotische Designerschuhe, erlesenes Parfum und teurer Schmuck, teuerster Nippes und extravagante Mode werden in marmorgefliesten Hallen von perfekt gestylten, dauerlächelnden Hostessen präsentiert. In Flipflops und Travellerhosen passen wir perfekt hinein in diesen Konsumtempel. Die Petronas Towers finden wir schließlich doch, mit ihren 452 Metern Höhe und 88 Stockwerken sind sie auch kaum zu übersehen. Ein paar Jahre lang war der Doppelturm das höchste Gebäude der Welt, ich finde das übergroße Statussymbol ziemlich hässlich. Die Erbauer haben immerhin mitgedacht, gleich daneben hat man einen kleinen Park angelegt. Von hier hat man einen guten Blick auf viele andere, teils auch extravagante Stahl-, Glas- und Betonkolosse rundherum: Zwar sind es allesamt Machtsymbole von Großkonzernen und Superreichen, manche sind jedoch einfallsreicher gestaltet als andere: Gewunden wie ein verdrehter Rhombus, in Form einer gigantischen Sanduhr, einer Ellipse oder mit begrünten Außenwänden. Trotz aller Pracht weiß ich nicht erst jetzt, dass ich nicht fürs Stadtleben geschaffen bin.
Ipoh, 12.11.2019